Andreas H. Drescher

JACK LONDON

Einen unangenehmerSCHNEESCHUHen Begleiter hätte ich mir gar nicht wünschen können. Vierzig Jahre lang ist er hinter mir her getrottet, hat die Reste von meinen Tellern gekratzt, am Fußende meines Bettes geschlafen und so bescheiden getan, dass ich ihm schließlich glaubte. Nun aber zeigt er sein wahres Gesicht, knabbert mir, während ich schlafe, Löcher in die Strümpfe. Ich staune inzwischen, wie richtig ich schon vor all der Zeit mit meiner Einschätzung dieses Liebedieners lag, so nachsichtig ich ihm gegenüber inzwischen auch geworden bin. Als ich ihn heute Nacht bei einer seiner Strumpf-Mahlzeiten erwischte, zeigte er nicht einSCHNEESCHUHmal ein Zeichen der Reue, hob nur einen Augenblick lang den Kopf und flüsterte mir zu: „Jetzt wird er mir sogar den Tod ausweichen.“ Keine Ahnung, was er damit meint. Doch einer seltsamen Scheu wegen, die sich schwer und doch nervös über mich legte, wagte ich nicht danach zu fragen. Er lächelte zufrieden, als ich kein Wort heraus brachte und wandte sich wieder meinen Strümpfen zu. Auch er hat sich also nicht getäuscht. Mein Mangel an Willenskraft ist offensichtlich. Ich versuche, in ein Kurzwarengeschäft zu fliehen. Aber haben die denn SCHNEESCHUHnachts geöffnet?

3. März 2015 00:50










Thorsten Krämer

am ende

am ende wird es ein erdenaufenthalt gewesen sein, der
kaum zu ordnen war, für mich, der ich
immer ordentlich bin.

Rolf Persch, 1949 – 2015

6. März 2015 18:06










Markus Stegmann

zuletzt

Am Trümmergestell unserer Stirnhöhlen
ziehn wir über Holland der Havel längs
geländegängige Granaten als
Selbstbeschuss sinkt unser Meer
mir ins Innenherz weisst du
weisst du nicht inneres Wohnlicht
verfärbt die Mandeln meine Lunge
ins Lippendickicht möcht ich mit
mit sags nicht fliehn voraus Verdacht
auf Treideln vielleicht Senkblei
Barkasse im Blicklicht naht
wer will das wärmen
wer denkt
oder wandert
wessen Augen
sahn wir
zuletzt?

Für R.F.

6. März 2015 21:17










Christine Kappe

kleine russische Sprachleere

In Russland gibt es mehr Felle als bei uns
Das Leben ist dort kälter, rauer und doppelbödiger
Auf den einzelnen Böden geht es dann aber wieder sehr direkt zu
Den Satz „X sastreliwajet B. Njemzowa pistoletom pri stenje“
(„X erschießt B. Nemzow mit einer Pistole bei der Mauer“)
können wir nicht ohne weiteres übersetzen
: uns fehlt der Instrumental (pistoletom) und der Präpositiv (pri stenje)
So gelangen wir unweigerlich in den Breich der Nachdichtung
und für X außerdem in den Bereich der höheren Mathematik

Was also kann die Lösung sein

Die Frage ist, ob a) die Lösung nicht im Satz enthalten ist, wie in einem heiligen Mantra
b) X überhaupt Russe ist
oder c) die Lösung öffentlich gemacht werden darf
ohne dass solche Sätze über einen selbst gesagt werden
Und die Anteilnahme ist dann auch noch nicht bewältigt!

(Übrigens: Der Akkusativ kommt im Russischen, anders als im Deutschen, erst nach dem Genitiv und dem Dativ, er ist peripherer, was allerdings keinen Rückschluss auf die Semantik zulässt, sondern lediglich ein anderes Ordnungssystem zur Kombination der Elementarteilchen darstellt)

8. März 2015 10:15










Sylvia Geist

Golems in Weißensee

Wenn er ihr seine Handschuhe reicht im geweißelten Raum
der Anlage, ist es das Ritual vor einer Notoperation,
Vorbereitung einer Arbeit zur Erforschung der Lage:

Steine, Spätwintersonne, die kurze Selbstvergessenheit
der zwei. Sie könnten ein Paar sein, das sich auf der Suche
nach Verwandtschaft verlaufen hat, stundenlang

an einer Mauer entlang im Kreis wieder und wieder
Hoffnung schöpft, bis eines von ihnen eine Stelle erkennt,
ein im Efeu gekentertes Grab, einen Giebel jenseits der Mauer,

ein Tor, hoch wie zwei Männer mit Speeren gegen die
Erinnerungen der Toten, die Geister der Lebenden.
Er hat Ideen, Tickets für Reisen in Zeiten nach oder neben ihnen.

Sie denkt an eine Leiter. Einmal klettert er hinüber, verschwindet
auf der anderen Seite der Straße, während sie wartet,
seine Handschuhe in den Händen, und als er zurückkommt,

hat er für sie nichts Besseres als ihre Verwunderung. Ein Passant
hört sie und ruft die Polizei, doch die findet den Weg nicht.
Wir werden noch, scherzen sie, bei diesen Knochen enden.

Oder es ist in der Mitte – aber da irren sie schon, ernsthaft,
als wären sie mehr als Lehm auf Füßen, ins rauschende Herz
des Geländes, vom Dunkel gefasst wie die Lampe am Eingang.

9. März 2015 17:51










Mirko Bonné

Pferd

Durch den Abend getrabt
als mein eigenes Pferd.
Lief am Fluss entlang,
ging auf die Suche
nach dir und fand dich
nirgends als in Gedanken.
Und zwischen Bäumen, da
standen überall Kinder,
die riefen: Pferd!
Pferd! Wir sind
die Schatten
der Wildgänse.

*

9. März 2015 22:12










Christine Kappe

das Leben zählen

Überall Digitalanzeigen, die das Leben zählen
damit wir uns nicht freuen
wir blauen blutsaugenden Spinnen
mit Händen statt Füßen an den Beinen
die Vorstellung, dass das Leben sich verzweigt, aufästelt, immer mehr wird, komplexer
aber ob blau oder grün
im Innern sind alle Spinnen rot
kurze Generationsfolge einerseits
Vampirismus andererseits
ob eine Spinne nicht die nächste ist
und ob sie überhaupt sterben, wenn in ihnen bloß Blut flieht
an den Beinen wachsen Hände
und an den Fingern Hände mit Fingern, an denen Hände wachsen…
gibt es eine andere Möglichkeit für diese Tiere
etwas anderes als das Leben zu wählen
ein Tier mit 8 Beinen, also 8 Händen
muss, um zu überleben, das Blut von 8 Tiere trinken
danach wachsen ihm 40 Hände…
die nächste Zahl ist 200
der Faktor heißt 5
das Geheimnis des Lebens ist ein  Rechenproblem
„Das Leben ist bloß eine Matheaufgabe“
Irgendwer vermutete, dass sie eine Seele haben
ja, eine Seele für 2 Hände, aber für 8?
und können sie nicht Pflanzen essen?
Und wenn die Erde, auf der sie leben, eine Insel ist
die von unten verfault und von oben immer neugebaut werden muss
werden sie nicht müde?
Und wenn die Erde, auf der sie leben, auf die Sonne, von der sie leben, zurast
werden sie sich nicht müde?
ist es das Leben?
sind das wir?

12. März 2015 09:17










Nikolai Vogel

9. März 2015, Isarspaziergang

Ein früher Frühlingstag im Winter,
Spaziergänger, das Licht, die Sonne,
wie Zeitlupe alles, verlangsamt,
die Zeit wabernd über Fluss und Wiese,
die Unendlichkeit, unendliche Schönheit der Welt,
und die Ewigkeit steht senkrecht auf uns.

13. März 2015 11:34










Markus Stegmann

Was war

Während wir die Bomben der Nacht aus
unseren Haaren waschen wächst leeseitig
neues Tageslicht das deiner Haut gleicht
glimmt in den Augen unserer Sprache
Sprachlosigkeit über allem was war

13. März 2015 22:40










Christine Kappe

mehr als alles

Und im Augenwinkel sehe ich
wie sie nicht nur alles zerstören
sondern mehr als alles
weil sie wollen, dass gar nichts mehr ist
lieber gar keine als eine ungerechte Welt
was sie eigentlich wollen

sterben
ohne darüber nachgedacht zu haben
was das ist
Kurz der Gedanke: Wir müssen was tun
weil ja diese Dinge auch nicht in Sprache
nicht mehr sein ist etwas anderes als nicht sein
und noch nicht gewesen sein
aber ob es, was es in Sprache gibt, auch gibt
und ob die Schönheit siegt, nur weil wir es wollen

aber ob das ein Beweis ist

was aber ist schön
auch Zerstörung?
Gewalt?

nicht mehr sein ist etwas anderes als nie gewesen sein
ob beides ewig ist
ob die Ewigkeit
unterbrochen werden kann
ob es einen Zusammenhang zwischen nicht mehr sein und noch nicht sein
ob das sein kann
ein Anfang ohne Ende, Ende ohne Anfang
und ob, was einmal war, nur in der Erinnerung, in der Sprache
nicht auch in unseren Körpern, in der DNA, aufbewahrt ist

wenn sie auf Körper einschlagen
wenn sie auf das, was Leben wertvoll macht, einschlagen
wenn sie auf den Glauben an etwas Schönes, auf die Hoffnung
auf etwas Schönes einschlagen

lieber soll gar nichts mehr sein / sie wollen, dass nichts mehr ist
sie wollen nicht sein
es ist ihnen egal, ob sie sind
ob ihr systematisches Vorgehen eine Systematik beweist
ob hinter ihnen ein Gott, ein grausamer Gott steht

ob hinter der Systematik höhere Mächte stehen
(wenn ja, wieviele, und wenn eine warum nicht zwei, und warum, und wenn alles nur ein Spiel ist)
oder nur Drogen
Rausch

ob sie nur das sind, was sowieso passieren wird

wenn wir es nur im Augenwinkel sehen, im Fernsehen, im Internet
ob wir das dann sind, /ob wir das dann selbst sind

(oder einer von uns, oder zwei
wenn wir nichts sagen
wenn wir nichts tun
wegen der Ungleichheit
wegen der Unterschiedlichkeit
die ja das Leben ist
nur im Tod sind wir gleich, nur wann und warum

und weil „sehen“ die Vergangenheit von „wissen“ ist
und wir eigentlich rückwärts gehen
und weil die Zukunft in der Vergangenheit liegt
zerstören sie alles
was mehr als alles ist

14. März 2015 10:32










Markus Stegmann

Patagonien

Am Rachen
Riff vor Patagonien
laue See
schwankt Infarkt implodierte Idylle
drei Tage
tragen wir Tote
aber
der Schimmer deiner
Haut
am gestauten Riff
wo wir
versehentlich
die Lippen
der Sonne berührten
sag mir
warum
ist dein Arm
an
meinem

14. März 2015 21:29










Thorsten Krämer

Der Staatssekretär ist krank

Der Roman eines Gedichts, die noch zu
leerenden Kaffeebecher: In der temporären Gegend
werden die Stimmen gesenkt, zwischen Stellwänden
geistern versunkene Dörfer umher.
                                           /Relokationen. Heimat
ist ein Vers, so dahingesprochen unterm Jubel
einer ganz anderen Baustelle.

(für Michael Serrer & Christoph Wenzel)

15. März 2015 18:12










Markus Stegmann

Makulatur

Palastwind Passat ganz fadengrad
geleerte Reste Andromeda dein
Anfang steht auf Belgien sagst du?
falscher Fisch oder wie verfing
im Rückgrat sich meine Galeere
passt halbleere Schwere Partitur
praktiziertes Benzin Vitamin
im Lidschatten deiner Meere
verformte sich oder zerteilst
du dich Holofernes‘ blinde
Passagiere ging wohl
fehl versehentlicher Gast
dragging the bone
blast Warlop Partitur
Palimpsest piano
Makulatur

17. März 2015 23:40










Tobias Schoofs

RASHOMON

im glanz der regennassen
plakate die sich den platz
streitig machen im auge
der vorbeihuschenden

im getuschel der leute die
mit einkaufstüten im schutz
der unterführung den regen
abwarten als bedrohe er sie

lauert gefahr

nimm einen tropfen aus
dieser erzählung und füg ihn
deiner eigenen erzählung hinzu

19. März 2015 21:02










Markus Stegmann

Medusa

Marmor verflogner Staub
im Kopf versteinertes Bild
zwischen Alraunen heller
als weiss atme ich schwach im
Verfliessen transitorischer
Trochäen auf Tromsö oder
war es Troja reiben wir uns
wund weder im Süden noch
im Hinterzimmer deines Films
bei verbotenen Spielen der Nacht
über Basel verflog dein Mund
versank ein Mond verschwand
im Nachtmeer der Stadt
frier ich mit deinen
porösen Bildern meines
Lebens die filigranen Falter
deines Films wickeln
das schwindende Paradies
in ein stummes Tuch

25. März 2015 23:23










Gerald Koll

Berlin am Sonntag




29. März 2015 22:25










Gerald Koll

Berlin am Werktag




29. März 2015 22:39










Sylvia Geist

Die Liebe in Zeiten des Aberglaubens

Die blaue Schüssel
voller Licht. Riesige Zerbrechlichkeit.
Welcher Atlas hält das fest?

Auf der Nachtseite der Kugel funkeln
die Waffen des vierzehnten Jahrhunderts.
Verzierte Messer, frühe Gewehre, und in unserem
Museum ruhen Artemis‘ Hunde noch auf dem Leib
einer Armbrust. Gib auf, sagen die Instrumente,
die Narben ihrer Intarsien: Wir wurden geliebt.

Helle Verzweifachung und
Frühling. Vollgesogen mit Bläue
schreit der Whiskey-Jack auf der Stromleitung
gegen den singenden Müllwagen an,
die Plastiktasche, Baumschmuck seit dem Herbst,
geht auf im Wind, eine Blüte so durchsichtig
wie der verschüttete Frühstückskaffee. Wahrer Jihad,
so der Vater eines toten Attentäters auf CTV,
das ist die liebende Sorge für die Familie.

Bete und geh auf
den Markt, einkaufen für ein Lieblingsgericht
in ayurvedischem Vermilion: carrots, pumpkin, pepper
in der Farbe der Sonne überm Morgenverkehr stadteinwärts.
Über Richmond glitzert die Luftbuswolke. Reines biscuit,
blaues china. In den Alpen sammelt man sich
nach der Rettung eines Flugschreibers. Denk daran, überall

lassen sich die Algorithmen deiner Fragen entschlüsseln.
Wisch die Rorschachflecken vom Zettel, lösch die Liste,
bete im Rythmus von Algen. Auf Miso. Und vergiss nicht
die Kokosmilch, den Curry aus Bombay! Jihad ist das
Lieblingsgericht. Die Kassenschlange im Marktparadies.
Küsse auf die goldenen Zehen eines Take-away-Buddhas
beim massenhaften Entern der Hochbahn.

Gib nicht auf. Dieses Seelending ist ein Kugelfisch
reinsten Wassers, voller Gift und Köstlichkeit.
Mach es richtig. Umarme die Schüssel,
full of gifts, mit dem, was du träumst,
in Wirklichkeit. Heavens of china.

Schneide den Kürbis, die Karotten, den Fisch
mit Liebe, poliere den Tafelaufsatz. Geh auf die Knie
um dieses Fußbodens willen. Bitte
für den Seelenfrieden der Piloten.

30. März 2015 02:32










Gerald Koll

Blaue Schüssel voller Licht




30. März 2015 08:59










Gerald Koll

Berlin am Montag









30. März 2015 23:28