Christian Lorenz Müller
Anfangs nur ein grüner Schatten
den der Sommer an die Wand warf.
Drei Jahre später saß er breit
auf dem Verputz, auf einer Sandbank
und äugte mit ersten Beeren
zu mir herüber. Zum Kaiman geworden,
glitt er fortan die Fassade hinauf,
schnappte das Licht von den Fenstern
und zog die Laterne ins Dunkel.
Ich nahm die Gartenschere,
schnitt ihm Kämme vom Leib,
doch er schwänzelte ungerührt
bis hinauf in den Dachstuhl
und plünderte das Weiß
der Satellitenschüssel.
So griff ich zur Axt. Sein Leder
lag noch für Monate
grünschimmernd im Garten;
die Krallenspur
geht noch heute übers Haus.
4. Juni 2015 16:56
Thorsten Krämer
Kein Affe lebt ewig. Eine bruchstückhafte
Kombinatorik, die Lücken im Alphabet
korrespondieren mit den Rissen im Farbband.
Immer der Hang zum Konkreten, anschaulich
gemachte Probleme. Daher der Wert der
Unendlichkeit: Sie erklärt auch das hier.
7. Juni 2015 23:08
Hendrik Rost
So alt wolltest du nie werden – alter ego.
Erinnere dich an Jeanne Calment, ältester Mensch
aller Zeiten. Sie starb 1997 mit 122 Jahren.
1889 begegnete sie als 14-Jährige dem Maler Vincent
van Gogh. Er erwarb in dem Laden, wo sie verkaufte,
neue Farben. Nach ihren Aussagen stand sie einem trüben,
schlecht gekleideten und ungalanten Kerl gegenüber.
Jetzt aber ist die Zeit wie in einem Jubeljahr
zu jedem halben Jahrhundert, in der Getrennte vereint werden,
Sklaven entlassen und alte Schulden getilgt.
Noch vor 10.000 Jahren wars, als jeder Erdenmensch
im Schnitt kaum älter wurde als 10 oder 12. Mit Leib und Seele
jagten und sammelten sie Erfahrungen und verstauten sie
tief in den Genen. Das sind mit Adam und Eva
nun wir, mit Lust und Laune. Ganz ohne Mystik –
länger zu leben als die 50 Tage von Ostern zu Pfingsten,
ist schon eine Gabe. Länger als eine Zigarette,
die Jeanne erst mit 119 aufgab. Du bist nicht so weit,
nichts zu wollen. Vincent hat Jeanne übrigens nie erwähnt:
„Wir stehen vor dieser Tatsache“, schrieb er Bruder Theo,
„meinem Vorsatz, tot zu sein für alles außer meine Arbeit.“
Einem Freund zur Feier
9. Juni 2015 07:58
Tobias Schoofs
die bedeutung ist gekommen
eine leiche die nicht sterben kann
tauben gurren auf dem fensterbrett
tuscheln: die leiche wird an land
gebracht. ich warte stundenlang.
ich weiß die tauben gurren noch:
sie spricht jetzt mit dem bürger
meister · verhandelt ein ernstes
geschäft. wann endlich kommt sie
und klingelt an meiner tür
15. Juni 2015 22:51
Markus Stegmann
Wenn du Teufel
bist
verzehr ich mich.
19. Juni 2015 22:08
Hendrik Rost
„Lass es ein Liebesbrief sein“
Krakeliger Schriftzug auf der Klappe eines Briefkastens in Hamburg
25. Juni 2015 10:02
Hans Thill
Ich, ich und ich. Keine Angst, gleich
knackt es ein wenig im Skelett
ich bin jetzt krank. Die Erde spuckt Brocken
und graue Erbsen, der Wind
hat einen Rock und heißt Ubu. Ich baue
mir ein Haus aus nassen Maulbeeren,
die hier die Straßen färben. Schwarzer
Letten, Spätburgunder, früh krümmt
sich was ein Polarorakel werden will.
Ein Trecker mit Bambi-Motor, gefahren
von der Oma, die ihr Fell nach außen
trägt. Im Winter, heißt es, liegt ein
sanftes Papierorakel auf Strauch und
Weg. Im Winter heizt man mit
Vokalen. Ich schreibe Wortskelette in den
Schnee, ich schreibe gelben Nebel
neben Edenkoben, den die Nibelungen
schlucken, als wären sie Deleuze.
Der löst die Rätsel einer Nachbarwelt
im Machtbereich der Gothic Girls
mit der Formel (typisch romanisch)
Poems for all – Pommes für alle!
Háblame, sagt der Marsietis: fülle endlich
jemand mein Glas mit gelbem oder
rotem Regen.
Begrüßungsgedicht für
Amanda Aizpuriete, Uldis Berziņš, Inga Gaile, Semjon Hanin, Liana Langa, Karlis Verdiņš, Carolin Callies, Claudia Gabler, Matthias Göritz, Norbert Hummelt, Jan Kuhlbrodt, Anja Utler
27. Juni 2015 10:19
Thorsten Krämer
Hier endet es: ein Zuschauerplatz auf dem
Sideboard, eskortiert von Nippes. Vom Foto
zur Textur, die Toten als Tapete: So legen sie
Bedeutung ab. Der Eintritt in die Umwelt kostet
nur das Leben und dann etwas Zeit. Ein passiver
Wortschatz aus Vergangenen, ein strenges Gesicht
in der Zimmerecke.
28. Juni 2015 12:32