Hendrik Rost

Pathos

Manche sagen, das Schönste,
was es gibt, das sei ein Buch
ohne Seiten, andere sagen,
ein Hund mit drei Beinen
auf einer Kriegsfotografie.
Das Schönste, was es gibt,
sagen einige, sei ein Gesicht,
das aus seiner Rolle ausbricht
und anfängt zu weinen oder
zu staunen: Eine ganze Flotte
von waffenstarrenden Schiffen
kommt den Fluss hoch. So sehr
ist er innig erwartet worden,
den Wandel, und dann fliegt er
in die Arme mit dem Wind.
Im Wesen des Kampfes liegt es,
dass einer besiegt wird. Helena,
sie verließ Mann und Kind für
einen anderen Kerl und den Tod,
so wie er jeden liebkost.
Angenommen hat sie ein
Geschlecht, das es gar nicht gibt:
nicht geboren, um Gefallen
zu finden. Sie bettet Reiz für
Reiz auf herausgerissene Seiten
und lässt sie ablecken von
Kötern. So lernt sie zu leben
in verlorenen Gesängen.

1. September 2015 09:15










Sylvia Geist

Schatzsucher

Als Kinder waren wir wild
auf Katzengold und Flint, sammelten gelbe, rote
Ziegelstifte von Baustellen und glatte Parkwegkiesel,
auch die Scherbenjuwelen, die beim Supermarkt wuchsen,
am Schotterstrand der Zufahrt, wo die Lieferanten Kartons
mit Konserven aufstapelten. Manchmal schenkte ich dir

meinen Neid auf einen Splitter, der im Wasser funkelte und
den du wegwarfst, sobald er getrocknet war. (Dieses Suchen,
Verwerfen und Suchen, erbt man das, wird man angehalten
zu Fingerübungen des Aufgebens und Besitzens, ist es eine
Sehnsucht, sich endlich zu erinnern?) Ich fand einen Bernstein
vom Umfang meiner Daumenkuppe und war für Minuten selig

über etwas, das ich mir nie gewünscht hatte. Ein andermal
beglückte mich eine Kalkkröte, bevor sie als Briefbeschwerer
in Vergessenheit geriet und schließlich verschwand. Sagte ich
erinnern? Schön wäre es, von Merkwürdigkeit zu sprechen.
Dass alles eine besäße und diese Übermacht zu Entscheidungen
zwänge, die die Hände träfen. Tatsache ist, sie heben auf

und lassen los, oder halten fest, um dann loszulassen und
etwas anderes zu halten, das sich in sie fügt wie ein Pendant.
Das stecken sie in die Jackentasche, und wenn sie es finden,
später, merken sie es kaum, Steine unter Steinen, ohne das
was Steine wahren. An einer Küste im Süden glänzen sie,
die von der Brandung jährlich um eine halbe Fingerbreite

geöffneten Kartons mit Vorräten gepresster, gesalzener Sande,
umwickelt mit Seilen aus Quarz. Du kannst sie unmöglich
verfehlen. Fahr nach Hoëbaai, mach Rast mit den Büschen,
dann folge dem Trampelpfad, der über den Hügel schlängelt.
Von dort siehst du sie schon, aufgestapelt vor dem rollenden
Mauerwerk See, die zum Bersten vollen Kisten.

1. September 2015 12:55










Christian Lorenz Müller

Als ich

Als ich aufwachte, nachts,
weich bedeckt, die Matratze
warm unterm Hintern,
dachte ich an die, die gingen,
40 Kilometer gingen, Marathon, ich dachte:
Wo schläft der Rollstuhlfahrer,
den du im Fernsehen sahst,
wo der junge Mann an Krücken,
der nach Schweden wollte?
Deckt sie der Tau?
Drückt eine Plastikflasche
als Kissen ihr Gesicht?
Hier rauscht der Regen,
dort die Autobahn,
und Wien ist weit, so weit.

So dachte ich
und konnte nicht mehr schlafen.

5. September 2015 10:07










Hendrik Rost

Prototyp

Wusstest du nicht, es spricht nur eine Stimme
in allen und sie ist sichtbar wie Licht.

Du hast nur ein Leben, nutze es,
sagen sie, um dir Produkte zu verkaufen –

kurz leuchtet das Wort Pro-fite auf beim Notieren
wie richtiges Wissen: woida, indogermanisch,

ich habe gesehen. Und so nutznießt du die Marotten
und Tücken dieser Zivilisation:

Protest und Ackerbau, Viehzucht und Grips.

Ware lockt in der Manier alter Meister
auf einer Werbetafel in der S-Bahn.

Korrigiere Leben in Leier, berichtige nutze es zu nutzlos.
Dann geh zur Arbeit morgens

im ersten Licht und sieh zu,
sieh zu, wie du sprichst.

5. September 2015 19:48










Björn Kiehne

Klagemauer

Ich lehne meine Stirn
an die warmen Steine,
die das Licht tranken,
das vom Himmel fiel.

Wörter fliegen auf
wie nervöse Tauben
formen vor der Sonne
Gebete aus Wasserdampf.

Für wen bete ich – für den
Vater der Mutter – den Täter,
für die Mutter des Vaters –
das Opfer, für mich selbst, der

hier in den Mauerritzen lebt,
ein wenig Dreck und Schmerz,
der müde seine Klagen in
den warmen Stein schreibt?

7. September 2015 10:26










Tobias Schoofs

REMIX

der aufstand wenn er kommt
kommt nicht im fernsehen

er macht deine lippen nicht sexy
er macht deine zähne nicht weiß
die frisur wird nicht sitzen du

machst insgesamt keine gute figur
der aufstand wird nicht gepostet
und sein erlebniswert ist null

er löst nicht das völlegefühl
er ist nicht bekömmlich niemand
sehnt sich nach ihm er kommt

wenn er kommt der aufstand
doch er kommt nicht im fernsehen

10. September 2015 19:58










Christian Lorenz Müller

Tg Salzburg Hbf

Rote Striche auf Beton:
Normgröße für vier Räder,
vier Feldbetten, Isomatten
oder auch zehn Decken
auf einer Lage Karton.
Gestern noch aufgeblendete Scheinwerfer,
heute das weiße Glosen
der Augen; erschöpftes Gewisper
anstelle summender Motoren.
Nur die Schranke ist offen:
Exit, Ausgang, Notausgang
in den Nieselregen
der diesseits und jenseits
der Grenze fällt.

14. September 2015 17:01










Hendrik Rost

In Carmel inhuman

Eine Eiche mit Konstellation Tagesschau steht
vorm Haus als vertrauter Wächter, im Geäst
hängt das Zerebrum eines Wespennests,
das uns den Sommer über grübelnd fixiert hat:

Es zwiebelt tagelang nach einem Stich,
aber Schmerzhaftes, es kehrt nicht einfach zurück
in den Naturzustand. Zerstreuung, wie sie
Menschheit bewegt, hat mich nach den News

nach Kalifornien entführt, wo Seelöwen mit Codes
aus Grölen Lieder singen. Blubber heißt ihr Schutz
vor Elementen; kaum durchblutete Substanz.
Nahe dem Hawk Tower fällt die Küste steil ab

ins Meer – das Unerbittliche, durch den Fernseher
sogar ist es zu spüren. Der Mensch als Meister
aller Extreme, Bammel hat er vorm Wetter:
trübe Gedanken und blitzgescheites Gewisper.

(Danke sehr für das letzte Wort!)

17. September 2015 10:46










Gerald Koll

Unser Himmel

Der Himmel war heute Morgen voll Blau. Und in den weißen Wolken war etwas Grau, aber nicht zu viel. Schön. Das hätte alles auch ganz anders kommen können, wenn wir drüben wohnten, jenseits der Ränder der Milchstraße.

17. September 2015 14:00










Christian Lorenz Müller

Ein Kilometer Luftlinie

Anspruch auf ein Einzelzimmer,
ruhig, mit Blick auf den Park
Feldbetten, ausgelegter Karton,
eine Tiefgarage für tausend Menschen
vor dem OP-Termin
ein Gespräch mit dem Primar
Rotkreuzhelfer versorgen
eine schlecht verheilte Wunde
das Wachstum ihres Kindes
wird durch die Titanplättchen
nicht weiter behindert
Bombensplitter? Nein, mein Junge
hat sich den Schenkel
an Stacheldraht zerrissen
so begradigen wir die Stellung
der Knie, für Schmerzfreiheit
selbst noch in hohem Alter
er wollte unbedingt
als erster unten durch
es wird ein bisschen wehtun
das wird schon wieder
du musst bis Freitag hierbleiben
wir wollen schnellstens weiter
du wirst bald ganz gesund sein
zu Fuß, wenn es sein muss
gute Nacht, ich komme morgen wieder
schlaf, mein Junge, schlaf ein.

18. September 2015 13:35










Hans Thill

Useful Knowledge

Das Elixir
wirkt wie lose Buchstaben in einem Gebirgsbach, eine Verabredung in die Rinde geschnitzt. Man trinkt es in kleinen Schlucken als einen Zusammenhang von Schlange und Schnaps. Man trinkt es im Exil. Auch hier muß man geduldig sein. Hans Test ist Tristan. Wer das Glas zu früh öffnet, wird noch schnell von der Schlange gebissen. So ist das in China, wo sich Eliten an einem Gebräu berauschen. Test nimmt Nudeln anstatt der Schlangen, den Liebestrank hat er zuvor verschluckt.

23. September 2015 11:48










Mathias Jeschke

Shakira und ich

Du behauptest, meine Haut lebe von Milch und Honig.
Ich greife dir an die Kehle und sage: nefesch. Das ist
das Wort der Hebräer für die Seele, die in der Kehle
wohnt. Das ist bei deiner Stimme so, my dear, wenn
du nur nicht solchen Pop-Scheiß fabrizieren würdest,
sondern Musik, die in der Seele wohnt. Ich denke da
an Arvo Pärts Nachtigall. Erotik ist ja überhaupt ein
unsichtbares Ereignis. Was soll nur werden aus uns?

23. September 2015 21:48