Nikolai Vogel

01.01.2016

Schon wieder ein Jahr,
und 2015
vergangen, verrauscht,
und 2016
schon nicht mehr ganz.

1. Januar 2016 05:51










Christian Lorenz Müller

*

Springbrunnen aus Licht.
Der brennende Frost lässt sie
schnell trockenfallen.

2. Januar 2016 17:07










Christian Lorenz Müller

16

Morgens das Fenster öffnen umblättern,
bereit zum Weiterleben -lesen
und dann das Erstaunen
über den weiß gewordenen Acker
über das Blatt ohne Druckerschwärze,
bestellbar beschreibbar
auch im neuen Jahr.

2. Januar 2016 17:09










Tobias Schoofs

ROSE

hier ist die rose die erste
einer reihe und die rose

heißt rose und ist keine
rose sie ist eine kneipe
die erste einer reihe und

sie heißt rose und sie ist
keine kneipe sie ist ein
leerstehendes ladenlokal

das erste einer reihe und
es heißt rose und es ist
kein ladenlokal es ist eine

baulücke die erste einer
reihe und sie heißt rose

3. Januar 2016 19:43










Mirko Bonné

Venceremos

Auf dem Parkplatz drüben, der Mitte
des grauen Morgens, lehnt eine Frau
mit Wintersonnenbrille an ihrem Auto.
Sie raucht hastig. Sie scheint zu warten.

Nur kommt keiner. Und es wird nicht hell.
Leichter Sprühregen, in dem sie ausharrt,
in die kahlen Wipfel zu den Krähen blickt,
auf ihre Uhr aus Gekrächz und Gekrächz.

Der Augenblick, vorbei. Der Paketdienst
liefert Pakete. Aus einem roten Reisebus
mit spanischem Schlachtruf an der Flanke
steigt ein Blasorchester. Worauf warten?

Such keinen Ausgang, such den Eingang.
Jeden erwartet viel Besseres als Träume!

*

4. Januar 2016 13:09










Hans Thill

sechzehn – seize – sixteen – sedici

Sechzehn

Die erste Zeche, als die Kohle noch eng
wie Sestinen unter unseren Hütten lag.
Sachlichkeit. Fossile Zähne, ein Lächeln
verteidigt die Freiheit im Unterholz
mit einer Sichel! Tigerzahnsäbel.
Soviele Knöpfe an einem Hemd.
Soviele Zäune in Sachsen, genug
um ein Sixpack aus Säcken zu füttern,
zu kühlen mit einem Bauch.

Seize

quelqu´un qui serre vraiment une seiche,
poisson de charbon. Coiffure de la
mer, les Antilles ont faim. L´anti-diamant,
mou, une soupe. Mangez, Sire,
une sucette de sirop dentifrice. Saint
et soufi, tousser comme une sale
haine, c´est la fin de la succulence
tout court.

Sixteen

you´re thin as a six made of bread and
Cobain everywhere. Hairy guitars,
coalminers drink too much dust but
they eat diamonds. Your password is
the neckverse. Show your jewels,
smile to the curly fly, she is waiting
till ten. Her name is Suzy and she will
be your sister for a season.

Antonio Rossi
Sedici

La prima miniera, quando ancora compatto
il carbone come sestine sotto i nostri capanni
giaceva. Oggettività. Denti fossili: un sorriso
nel sottobosco difende la libertà
con una falce! Sciabola di dente di tigre.
Tanti bottoni su una camicia.
Tanti steccati in Sassonia, bastanti
per rivestire un addominale a sei sacche
e con una pancia rinfrescarlo.

4. Januar 2016 19:18










Hans Thill

setze – dieciséis

Àxel Sanjosé

Setze

Ets cec i a Sitges,
i sents com s’atansen les cendres,
potser l’estiu, potser l’hivern,
amb els colzes apartaries la gent
si n’hi hagués, au, crida el metge.
Les alzines s’han encès
els estels mostren llur sexe.
„Quiets!“ els dius, i es queden quiets
com dient: „I tu, qui ets?“

Dieciséis

¿Qué diosecitos habrán cedido
a tu incesante afán de ser
sin que se deshicieran los cielos,
esas dehesas con cirios
que siguen ahí, yermas y abiertas,
para que se citen los ascetas? Y ¡zas!
llegas tú y te desconviertes
en días inciertos, en bises:
¿Quiénes sois y qué decís?

5. Januar 2016 11:03










Thorsten Krämer

Dans la rue de l’iPhone 6

Zwischen Stoff und Stoffen reihen sich
die bühnenreifen Freundlichkeiten: ein Spalier
von Schnäppchen, versierte Angebote
in der Lingua franca. In gerader

Linie reicht die Tradition zurück und
in die Zukunft: Kann keine Ausgangssperre
sein, die unterbräche diese Handelskette
aus dem Handgelenk. Die Grenzenlosigkeit

des Trottoirs, der Größenwahn der Achsen:
ein Seitenblick; ein Lächeln, das vorüberzieht.

5. Januar 2016 20:58










Markus Stegmann

Bin ich Frau Atnan, aber warum?

Frau Atnan sagt, der Krieg sei das einzige, das sie jetzt noch reize. Das dürfe sie aber nicht sagen, das sei Kriegsverherrlichung, da drohe Strafe, meine ich, aber Frau Atnan ist schon fort. Und die Frau Glas, die solle bitte folgen, und ich, ja ich würd mich sowieso nicht trauen. Frau Glas, warum Frau Glas, das war doch Hugo Ball? Vielleicht befinde ich mich im Krieg und nicht Frau Atnan. Wir verwechseln uns, aber warum?

7. Januar 2016 23:10










Andreas Louis Seyerlein

~

22.01 – Ich erinnere mich gern an Max. Er war gerade 6 Jahre alt geworden, als ich ihm zuletzt persönlich begegnete. Wir saßen damals an einem Küchentisch, es war Abend, Max schon müde. Er schüttelte etwas gelangweilt eine Paprikaschote und wunderte sich, weil in der gelben Frucht Bewegung zu sein schien. Ich nahm ihm die Paprika aus der Hand, und tatsächlich war in ihrem Inneren etwas lose geworden oder existierte dort, das sich üblicherweise nicht in einer Paprika befinden sollte. Also legte ich die Paprika zur Untersuchung auf einen Teller und öffnete sie vorsichtig. Es war ein kleines Loch, das ich in die Paprika schnitt. Seite an Seite sitzend warteten wir gespannt vor der Frucht darauf, ob vielleicht Irgendetwas oder Irgendjemand aus der Öffnung steigen würde. Indessen erzählte ich von der Erfindung der Tiefseeelefanten, von ihren kilometerlangen Rüsseln, die sie zur Meeresoberfläche recken, sofern sie den Atlantik durchqueren. Bald wurde Max ungeduldig, er nahm die Paprika in seine Hände, um durch das sparsame Loch zu spähen, ohne freilich etwas sehen zu können, es war dunkel da drin, weshalb ich das Loch vergrößerte, und außerdem noch zwei kleinere Löcher für das Licht seitwärts in den Körper trieb. Wiederum spähte Max in die Paprika, jetzt konnte er etwas erkennen. Er stellte nüchtern fest, dass sich in der Paprika ein Ohr befinden würde, ein Paprikaohr, ganz eindeutig. Zwei Jahre sind seither vergangen. Als ich kürzlich mit Max telefonierte, erklärte er, dass er in der Schule Tiefseemenschen mit Bleistift zeichnete. Immer wieder habe er die Körper der Tiefseemenschen, die über den Meeresboden spazierten, ausradiert, um sie noch kleiner zu machen, damit ihre Hälse auch lang genug werden konnten auf dem viel zu kleinen Blatt Papier, das ihm zur Verfügung gestellt worden war. – stop

0.55 – Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E-Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in sehr kleine Teile zerlege. – stop

> particles

11. Januar 2016 01:24










Markus Stegmann

Empfindlich

Frau Atnan sagt, ich solle nicht immer so empfindlich sein. Sie könne gar nichts mehr sagen, ohne dass ich nicht mit höchster Empfindlichkeit reagiere. Man könne mit mir nicht mal mehr ein normales Gespräch führen. Sie habe gut reden, antworte ich, sie könne sich gar nicht vorstellen, was sie mit ihren Worten in mir auslöse, es fehle ihr dafür das Vorstellungsvermögen, denn ich hätte eine ganz andere, wesentlich unglücklichere biografische Konstitution als sie. Sie wolle mich wohl mit Schweigen abstrafen, indem sie mir keine SMS mehr zukommen lasse, obwohl ich mich bei ihr für meine jüngste Empfindlichkeit in aller Form entschuldigt habe, wenngleich ich im Innersten der Meinung sei und dies an dieser Stelle denn doch mal laut sagen wolle, dass ich mir meine Empfindlichkeiten nicht einfach aussuchen würde, im Gegenteil, dass sie mich ungefragt heimsuchten und mir in den Nächten unsägliches Leiden zuführten. Ihr Schweigen diene mir dazu, mich zu besinnen. Wenn sie aber fortgesetzt schweige,  müsse ich ihr Schweigen mit Schweigen beantworten, um mein Gesicht nicht zu verlieren, aber dann litte ich noch mehr, dann sei die Empfindlichkeit noch grösser, ob sie daher nicht doch wieder etwas sagen könne, und sei es nur etwas Beiläufiges.

11. Januar 2016 23:13










Christine Kappe

Tage unter Null

Tage unter Null. Um zu erwachen, müsste ich den Gefrierpunkt überschreiten, die Eisdecke durchbrechen, vorm Dunkelwerden ein vernünftiges Wort sagen, nachhause kommen. Doch zu

sind die Augen wärmer. Wer zuerst aus dem Haus geht, tauscht die Warnung der Träume gegen eine Handynummer, die beim Einschalten hochkommt.

Man müsste Eisberge kennen, ich meine, ohne Spitze. Und – das hatte ich noch vergessen zu sagen – wir wählen, was zunehmend an Bedeutung verliert.

Die Abschaffung der Possessiv-Artikel haben wir übrigens Theo zu verdanken.

12. Januar 2016 06:23










Christine Kappe

Pferd auch

Ich spiele mit dir im Hof. Auf dem Balkon bellt ein Hund. Du schaust zu ihm auf. Knurrend steht er am Gitter, groß und schwarz. Doch du sagst nur trocken: „Pferd auch.“
Ich will dich erst korrigieren. „Wo ist da ein Pferd?“ Doch dann, als ich es wage am Hund vorbei durch die Balkontür ins Innere des Hauses zu schauen, sehe ich – der Sonne zum Trotz, die hier draußen alles zum Leuchten bringt – ganz hinten im dunklen Zimmer auf dem Regal, zwischen schemenhaften Zinnfiguren… ein kleines Holzpferd mit spärlichem Schweif.
Aber ich muss mich schon sehr anstrengen.

für meinen Sohn Arno, damals 3 Jahre

17. Januar 2016 23:03










Christian Lorenz Müller

SCHITOUR (SPÄTE BESCHERUNG IN HAIKU)

Lärchenlametta.
Die weiß verpackten Hänge,
beschleift mit Spuren.

18. Januar 2016 21:02










Christine Kappe

Hymne an die elektronische Musik

Skifahrer bei Nacht, der Takt ist viel zu schnell, um ihn
rhythmisch zu erfassen, es handelt sich um die Panik von Skifahrern, die
im Dunkeln noch nachhause finden und nicht erfrieren wollen; eine tiefe
Frauenstimme versichert ihnen aber, dass sie sich nicht zu beeilen brauchen,
das Haus ist längst eingeschneit, abgebrannt?, egal: solange
sie sich bewegen, kann ihnen nichts passieren, angestrengt lauschen sie
dem Sirren der Seilbahn – natürlich ist ihr Herzschlag inzwischen viel lauter

21. Januar 2016 06:40










Christian Lorenz Müller

VERIRRTER JAPANISCHER SCHITOURIST AM ABEND (ANGST IN HAIKU)

So weiß blakt der Schnee.
Lampions, schwanken die Gondeln
erlöschend im Wind.

22. Januar 2016 12:03










Christine Kappe

Hymne an die elektronische Musik 2

„Das Leben ist eine Eisrennbahn. Liegt Schnee, ist es kalt; liegt kein Schnee, ist es glatt; taut es, war alles nur eine Täuschung“, dachte der Japaner und lief so schnell wie Regentropfen fallen.
„Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Zittern auf der
Wasseroberfläche von unten, dann ist es nicht mehr das Zittern auf der
Wasseroberfläche, es ist das Zittern unter der Wasseroberfläche, auf der
Wasserunterfläche, das Zittern im Wasser, das Zittern, mein Zittern; es ist
die Musik des Anfangs und des Endes, d.h. des Windfangs,
der Umfang dieser Musik beträgt 1 Wasser, das Wasser trägt mich.“

23. Januar 2016 18:30










Markus Stegmann

25. Januar 2011

den gesteuerten arm angebundnen
kopf gerannte wasser wasser
druck gelogne sprache gerannte
drehende geschobne gliedmassen
menge werfende steine der verdrehte
arm verbundne rücklings gedehnte lügen
reisst papier ab vom kopf die tiefe
in der sie gehoben von allen gehoben

midan ataba

25. Januar 2016 22:35










Tobias Schoofs

SELBSTBESCHREIBUNG

plötzlich klappert die alte maschine
seit jahren steht sie nur ausgestellt
zusammen mit anderm alten gerät
darunter auch eine staubige contax

und sie erzählt uns ihre geschichte
von den gesprächen mit den andern
die ganze zeit und dass sie wünscht
was sie hervorbringt wären nicht nur

diese kleckse auf papier sie möchte
wie die kamera bilder machen nur
wirklicher nämlich bewegte bilder

lebende wesen mit echten wünschen
echtem gefühl und sie verzweifelt nur
wieder von maschinen zu schreiben

28. Januar 2016 22:50