Andreas H. Drescher
Das warme und das kalte Gras 16
Fallendes Gras und die Geräusche der Sense sind an diesem Morgen die einzigen Lungen der Gegend, als der Schnee aus Westen keine Vermutungen mehr hatte und niederging ohne zu welken. “Verteert liegt das Meer,” fressen Unsrige in den Morgen, aber sie haben keinen Kopf, um ihre Augen zu kühlen.
Also lausche ich der Thermometersense hinterher, die sich anhört wie und die sich Lungenbläschen anhört, kristallines Exxon vor Galapagos, Quecksilberechsen als die letzten Straßenbauer über Ozeane. “Gehörst du uns?”, fragen sie vor der Mittagspause – und löffeln bereits zum Dessert Gemeinsamkeit.
Das Meer der Mittage erwidert: “Zuviel Falschmehl hängt am Himmel und keine Hoffnung auf den Sommer.” Wir entkernen perlende Tabletten, während die Herkunft der Strasse schweigend zu uns herübersieht, sich über den Schnee des Westens beugt und “Lehnt euch nicht nach vorn, es fehlt der Abstand zum Denken,” spricht.
So springt der Zeiger von Dessert auf Vorspeise zurück, von Dessert auf Vorspeise – und wir bleiben selbst im Teer noch Fischer. Lungenfischefischer, die den eingeperlten Schotter lustig aus den Netzen schütteln, die nach Kiemen Ausschau halten, um selbst Tanker damit zu bestücken. Aber Obacht! Tanker sind für ihre Denkfaulheit bekannt.
“Ist egal,” sagen sie und sitzen um ein Feuer auf der Strasse der Herkunft, während über ihnen die Luft aus schweren Kiemen atmet, aber kein Bäcker erscheint, um “Vorsicht,” zu flüstern, “es kommt ein Ball”. “Egal,” dreht der Wind am Bosporus, deine Tanker kommen nicht mehr und unsere Zeiger springen zurück auf Null.
Und wenn das Feuer die Straße selbst wäre? Und die Straße leergefischte Küsten? Wie hoch ragt der Kiementanker, um Null, um Eins, um Null? Wie hoch ragt er, um dir als Jason, um dir als Byron, um dir als Kemal einmal ist keinmal den Scheitel nachzuziehen? Der Ball als Kugel, als Klumpfuß, als Goldklump, also Gier, Gier und Gier?
“Von innen ist die Nacht grün und grasig,” schwimmt ein Halbsatz als Fackel aufs Meer, über Wellen und Wogen, verfängt sich am Leanderturm, die trübe Silhoutte im Regen. Liebe ist Wasser und fliesst fischlos von uns fort, noch ehe wir sie fassen. Weder Gelände noch mattierte Augen heben den Grund des Meeres, als einer von uns schreibt: “Endlich vor uns ein Archipel, aber kein Herz mehr, keine Augen.”
Geblendet von der Thermometersense, zu lange gefackelt. Wo Augen waren, ist jetzt nur noch Gras. Und wo Gras ist, macht es auf Gelände. Wer schiebt und schreibt das Archipel? Einer von uns, wer immer von uns einem. Wer von uns wirft die “Exxon Valdez” als Fisch ins Meer zurück? Vom Bligh-Riff bis Galapagos? Wir eins alle haben sie als “Dong Fang Ocean” zum Ozean selbst umgemustert.
“Keine Tiefsee, kein Thermometer, was hier schwimmt, trägt nicht mehr,” vermuten Unsrige, kippen einen Klaren und seilen sich vom Leuchtturm ab. Keine Dioden haben die Schädel im Angesicht, aber unsere Stirnen fixieren sie, so stumm werden die Gespräche, als senkte sich der Hauch der Vergangenheit auf unser Grab, das noch nicht mal gestorben war. Aber der Hauch, der ist schon da.
Bärtige Rapunzler am Grasseil ihres Abstiegs. Schädel, Quadratschädel, Kubikschädel. So hängen sie, diodenhell, als ihre eigenen Körbe da. Ein Knistern unter ihren Hintern. Sehr feines Fischmehl stäubt am Turm entlang. Lungenfischefischerlugen durch die Ritzen. Bäcker unter ihnen. Die warten schon, um sie in Papiertüten abzufüllen. Aber nicht ihr Hintern, sondern ihr Klumpfuß ist das Erste, was durch diesen Korb bricht.
Was wiegt ein Korb Klumpfüsse, wenn die Papiertüten der Vernunft versagen und stattdessen aus purer Verlegenheit Fischmehl in die Luft streuen, während die frühesten Bäcker die klügsten aller Werwölfe waren? “Kein Korn, das uns Mördern den Galgen versüsst, kein Schrot, das dir die Gespenster verjagt,” wärmt mich die Suppe toter Kinder, als wir zusammen um die Schädel sitzen, aber den toten Fischen die Antwort schulden.
“Hui, geht das hurtig!”, staunt der zweite Unsrige und schleppt die Klumpfußwaage aus dem Teer heran. Bäcker-Birnen, Bäcker-Bohnen, Bäcker-Speck hat er schon eingefrüht. Der Bart ist ab, das macht die Suppe meeren, lungenbläschenen. Mittag zu Mittag: “Deubel eins, wenn das mal nur keine Hanse wird.” Mittag zu Mittag: “Ach was, die Hanse hat sich lange selbst verklappt.” Ganz leises Sauggeräusch, dann Lazarus der Klippenfische.
Die Bärtigen sind in Überzahl, die Hanse schlägt fünf vor zwölf und die Suppe löffelt Lungenbläschen. “Kerben im Handknochen sind keine Lösung für die geopferten Bäcker,” ankert Lazarus auf der Insel, während sich die Lagune unmerklich gegen Mittag weiter nach Süden verschiebt. Unsrige hocken gefesselt auf einer vorgelagerten Sandbank, als ein überlebender Bäcker zu ihnen herüberwinkt.
Auf welchem Schiff steht er? Auf eben dem, das die Hintern der Unsrigen so fließend in den Teer der Sankband sunken lässt? Als ihre eigenen Vergangenheiten? Lazarus, Lazarus, warum hast du mich verlassen! Wer ersteht jetzt diesen Mittag auf? Das Magengrimmen nach dem Speck? Den Birnen und Bohnen? Hui, hui, das atmet schon Handknochen aus. Die Unsrigen reiben sich die Bäuche und lassen Steiße Steiße sein.
Die Trommeln der Taglöhner und die Schlagschnüre der Vertriebenen beenden unsere Vergangenheit und erwecken Paulus im Schalterraum der Hauptpost. Mit abgebundenen Gebeten hinken unterdessen Unsrige über die Insel und klagen: “Wer klebt uns das ausfallende Haar wieder an?” Wir verstehen aber nur “anschwellende Saar” und rühren weiter in der Suppe.
Das Klingen von Holz gegen Metall, verschleppt vom Schlick der Schiffbarkeit. Ein Kindersüppchen. Die eben ausgekratzte Stoppeln rein, Paulus als Sau, zwei Klumpfüße… Selbstverständlich darf auch Mehl nicht fehlen. Blupp! Die ersten Lungenbläschen steigen schluckaufauf – und unsre Unsrigen sitzen im Kreis darum herum, um einander seebärweise mit den Flossen anzustoßen und zu flüstern: „Guck doch mal! Das Meer!“