Christine Kappe
den ganzen Tag über brennen die Straßenlampen. beleuchten natürlich nichts, weil die Sonne viel heller ist. verdunkeln eher. Z.B. die zahlreichen Baustellen, die eigentlich Nähmaschinen sind. hier wird der Stoff genäht, hinterm dem sich Tod & Sex verstecken / der immer wieder zerreißt. durch die Risse sehen wir in ein Loch, durch das es mörderisch zieht. sofort kommen uns die Tränen, doch nicht aus Trauer, sondern vom Luftzug
es ist immer neblig hier, immer Smog, deine Haut ist immer salzig, weil du immer schwitzt. das Wort „immer“ hat in dieser Sprache eine andere Bedeutung: „dima“= der Vorname eines Prinzen mit stolzem Blick. die Schaufensterpuppen gucken eher genervt, tragen Jellebbas: eine hat Haare vor den Augen, eine andere auf den Zähnen
14. Juni 2014 18:06
Christine Kappe
04.17 – Maik, in dicker, roter Steppjacke, mit Kapuze und Badekappe darunter. Hört mich erst gar nicht, als ich grüßend an ihm vorbeiradele. Dreht sich dann um wie ein Uhu und grüßt zurück, wobei ich am farblosen „Guten Morgen“ höre, dass er mich im Dämmerlicht gar nicht erkannt hat. – Neuerdings bleiben mir immer diese Sätze im Ohr, die nicht so gemeint sind. (Maik würde nie jemanden grüßen, den er nicht kennt!) Beim Weiterfahren denke ich noch über ihn nach. Er will sich vor den Witterungseinflüssen schützen. Und er will nicht gesehen werden. Aber warum hat er dann eine rote Jacke gewählt?
24. Mai 2014 07:34
Christine Kappe
Dass es morgens früher hell wird und trotzdem kalt ist,
irritiert mich. Ebenso, dass einer für eine Tour aufsteht,
die noch nichtmal 100 Zeitungen umfasst. Muss die 1543
vertreten – Ekhof, Biel – weil der Zusteller gestern im
Treppenhaus gestürzt ist. Diese Straßen sind Geheimstraßen,
kopfsteingepflasterte, gemischtgebäudrige, gemischtsoziale,
kleine, dunkle Stichstraßen. Ich treffe niemanden. Falsch:
ich treffe die alte Frau, die morgens immer so langsam zum
Bäcker geht. Aber sie ist gar nicht so alt, aus der Nähe betrachtet.
Nur blass, sehr blass… Ich sage nichts, grüße, sie grüßt zurück,
bleibt stehen, an jedem Auto bleibt sie stehen und hält sich fest.
„Machen Sie die Tour hier jetzt?“
„Nur Vertretung. Der Mann ist gestürzt.“
„Ich auch.“
?
„Deswegen muss ich so langsam gehen. ’s tut alles weh.“
„Wollen Sie… zum Bäcker?“
„Ja…“
„Es ist doch erst halb 5…“
–
„Mensch. Machen Sie’s gut. Passen Sie auf sich auf!“
Aber das klingt mir noch lange nach: dieses Ja, was kein Ja war.
15. Mai 2014 09:01
Christine Kappe
alles ist möglich:
wir essen die Joghurt (zumindest in Hannover)
unser Zug hält gleichzeitig Frankfurt Hauptbahnhof und Frankfurt Süd
die S6 wartet auf uns, weil Sylvia noch eine Zigarette rauchen will
Markus wird gelesen
Andreas ist Goethe
Christine isst ihre Gedichte
herrlich! schreibt der andere Andreas aus einer anderen Realität in München
13. Mai 2014 08:37
Christine Kappe
Der Hahn spricht Russisch
Der Hund Deutsch
Idole, ja, die gibt es nun nicht mehr
so geht man halt in die Kirche
Nur die Frauen mit Kopftuch und ungeschminkt
Nur eine Kirche zum Taufen
wird natürlich zuerst gebaut
mit aufgesprühtem Schnee
Für die zweite, auf dem Dach der ersten stehenden* Kirche
braucht man 5 Millionen Backsteine
(Geräusch des automatischen Filmzurückspulens)
Die Steine dürfen keine Löcher haben – deswegen verzichten sie auf die Hilfe vom Staat
Vom Dach der Kathedrale wird man das Dach der Kathedrale sehen
Die Glocke hat Stalin vergraben
Ist die russische Mutter Gottes eine andere?
Die Alte segnet uns, schenkt uns Äpfel, Brot, hätte bald noch ihren Samowar aus der Tasche geholt
Sie hat mit den Partisanen gekämpft, einen Tag lang unter Toten gelegen, bis ein deutsches Mutter-Gottes-Bild sie errettete
Statt Hass schlägt uns Liebe entgegen
Aber wir wissen auch nicht, ob wir das so gut finden
Hier muss noch das Datum notiert werden: Oktober 1994
* Änderung vom 9.5.2014
8. Mai 2014 11:32
Christine Kappe
Konflikte klingen wie Cornflakes
jemand muss ja schuld sein
am besten gefiel mir noch: you all can live here, where is the
problem
Wir sind ja in Russland jetzt
und alles, was out of question war am interessantesten
life is going to tending
different
elites need
fight или find (if not can fight) it out
Beer versucht mal wieder den Feudalismus zu bekämpfen
R war immer nur EIN Land
fight against themselves?
Der Konsul hatte viel zu tun
– eigentlich war er Presseattaché
sehe ihn noch vor mir, wie er im Morgenmantel mit einer Flasche Schampanskoje
durch den Flur unserer Russisch-Schule lief und zu spät zum Unterricht kam
–
musste das erstmal sortieren
dass Kohl mehr Wodka vertrug als Boris
was ja nicht zu erwarten war
Warum es kaum Milch gibt?
Weil die Lastwagen vor Moskau von der Mafia abgefangen werden und 2 000 $$ bezahlen sollen
Aber du kannst hier deutsche H-Milch kaufen
is schon verrückt
13. März 2014 09:55
Christine Kappe
Diesselbe alte Frau, die noch eben von Straflagern und Massenexekutionen erzählte, sitzt jetzt hier neben uns im Rockkonzert mit ihrer Tochter
Eintritt frei
Die weißrussisch singende Band
jetzt tritt Lukatschenko auf und hält eine ziemlich strange Rede
darüber, dass es im Kommunismus überhaupt keine Kultur gegeben hätte, sondern erst jetzt
plötzlich
die tanzenden Mädchen werden immer mehr, die Lichter immer bunter, ein riesiger Chor tritt auf, bald können die kaum noch treten vor lauter Blumen auf der Bühne, und ich verstehe nicht mehr, worum es geht, ganz abgesehen von der Lautstärke
doch Maria hat da keine Probleme
das alles auf etablierten Stühlen
trabbiblauen, meine ich
DER Farbe des Ostens schlechthin
22. Februar 2014 18:47
Christine Kappe
Saal 18
Ich dachte, es gäbe keine heidnischen Götter
Überall Weiß
Niemand weiß, warum der Ritter ein Kreuz trägt, obwohl er an nichts glaubt
Jesus fällt in weißrussischer Tracht aus dem Himmel
Löcher im Bild und eine
Symmetrie
Das „ausverteilte “ Land
Und das hier mitten drin
einige Tschernobylfehlgeburten
Der Strom ist derselbe
Es geht voran
oder ist Gas wichtiger als die Nationalfrage
die kranken Kinder wurden als Friedensboten gesehen
Früher standen die Sitze andersherum
das ist alles
Wir haben nicht alles, was wir zeigen möchten
erklärt die Wärterin
Bei uns ist es umgekehrt, wirft H.-H. so dahin
Die Schwierigkeit, Waffen und Schmuckstücke auseinanderzuhalten
wo war ich?
ach ja, Saal 19
15. Februar 2014 10:00
Christine Kappe
Muss aufpassen
dass ich nicht auf der Rennbahn der gnadenlosen Läuferinnen spazierengehe
womöglich ihnen entgegen
wie hier am Ufer zur Mittagszeit
Denk dir nur
Während du lässig träumend über einen Kreidestrich gehst
kinderleicht
ist es für manche das langersehnte und einzige Ziel
(muss auf den Rasen springen, als sie vorbeisprinten)
(und eigentlich geht es ihnen gar nicht um Sport, hier, wo das Leben so anstrengend ist)
Es fiel das Wort Heldin
ins Wasser
Irgendjemand zimmert einen Pavillon
Die unerschütterliche Freundlichkeit der Weißrussen: wenn sie den Weg nicht wissen, sagen sie ihn trotzdem
14. Februar 2014 11:58
Christine Kappe
Rimpau 21. Irgendwo muss der Hund sein… Der Hermesbote hat die Lieferung nicht grundlos auf die nasse Erde neben dem Gartentor gestellt. Ich sehe nichts, höre nichts, gehe durch die offenstehende Pforte zur Haustür. Stille. Ich werfe die Post ein. In diesem Moment bellt er los und wirft sich von innen gegen die Tür, zerfetzt die Post, tobt, ich höre ihn noch, als ich schon 5 Häuser weiter bin.
Einmal war er im Garten. Ich hörte ihn durch die blickdichte Hecke. Sein Bellen klang wie ein Husten, bei dem sich viel Schleim löst. Seine Herrin rief mir zu: „Ich habe ihn an der Leine!“ Aber das war mir egal, ich wollte leben. Ich warf die Post auf die Erde und fuhr so schnell wie möglich weiter. Ich hörte, wie die Frau ihren Hund anschrie, dann schrie sie hinter mir her.
Doch der Hund kann nicht anders: das freistehende Haus ist ein Paradies: die Garage mit dem silbergrauen Jaguar steht offen, Fahrräder lehnen unangeschlossen am Zaun, Spielzeug liegt über den Rasen verteilt und an der Haustür hängt von außen ein dicker Schlüsselbund.
28. Januar 2014 14:24