Christine Kappe

kleine russische Sprachleere

In Russland gibt es mehr Felle als bei uns
Das Leben ist dort kälter, rauer und doppelbödiger
Auf den einzelnen Böden geht es dann aber wieder sehr direkt zu
Den Satz „X sastreliwajet B. Njemzowa pistoletom pri stenje“
(„X erschießt B. Nemzow mit einer Pistole bei der Mauer“)
können wir nicht ohne weiteres übersetzen
: uns fehlt der Instrumental (pistoletom) und der Präpositiv (pri stenje)
So gelangen wir unweigerlich in den Breich der Nachdichtung
und für X außerdem in den Bereich der höheren Mathematik

Was also kann die Lösung sein

Die Frage ist, ob a) die Lösung nicht im Satz enthalten ist, wie in einem heiligen Mantra
b) X überhaupt Russe ist
oder c) die Lösung öffentlich gemacht werden darf
ohne dass solche Sätze über einen selbst gesagt werden
Und die Anteilnahme ist dann auch noch nicht bewältigt!

(Übrigens: Der Akkusativ kommt im Russischen, anders als im Deutschen, erst nach dem Genitiv und dem Dativ, er ist peripherer, was allerdings keinen Rückschluss auf die Semantik zulässt, sondern lediglich ein anderes Ordnungssystem zur Kombination der Elementarteilchen darstellt)

8. März 2015 10:15










Christine Kappe

erste Liebe

Die erste Liebe, die erste große Liebe, die Liebe, die schon mit 8 Jahren kompliziert, sich auffächert in verschiedene Unmöglichkeiten, in den Worten der Mütter am Telefon, die Worte, die ganzen Worte, die man macht, um sie herum und gegen sie, und fürdafür, Zweifel, die halben, zumindest in der Schule spielt er nicht mit ihr, weil die anderen Jungs ihn ausgelacht haben, tauscht doch nicht ein Mädchen gegen seine Clique, dann die Mutter am Telefon, Tina will nicht mehr mit ihm spielen, sei traurig, wütend, mein Sohn mit dem Rücken zur Heizung und sagt gar nichts, später fällt mir ein, dass es bei seinem Bruder genau umgekehrt war, er mochte Maria, wollte immer mit ihr spielen, egal, was die anderen sagen, hielt ihr Händchen, doch Marias Mutter wollte das nicht, war ihr zu viel, sie sollten nicht mehr spielen, und ich frage mich, wie wars bei mir früher… doppelte Sicherheit: ich suchte mir gleich einen Jungen, der nicht Händchen hielt. Außerdem hätte ich es nie meiner Mutter erzählt… , die ja nur ihre Kinder, die die großen Gefühle und überhaupt die Gefühl, die wissen, was gut ist, die ganzen Mütter, die ersten, die großen, die Mütter

24. Februar 2015 18:39










Christine Kappe

früher, heute, morgen

Früher haben wir auf unseren Treffen gern Fotos angeschaut, Kannst du dich noch an den erinnern, oder Was macht jetzt die? Wie hieß sie nochmal? Und vor allem: Wie wir ausgesehen haben, Und Wo war das nur?
Jetzt machen wir ständig Fotos oder überhaupt nicht mehr, das kommt aufs selbe raus, und dann schauen wir sie nicht an oder können sie nicht sortieren, vielleicht liegt das daran, dass sich unsere Wege auseinanderentwickeln, nicht an der fortschreitenden Technik, alt sind wir jedenfalls nicht, Mitte des Lebens, Doch Alles Wesentliche muss passiert sein, sagst du, sagt dein Vater, Vielleicht denkst du etwas konservativ, oder einfach nur realistisch, ich zumindest will Gegenbeispiele nennen, finde aber keine auf die Schnelle im Regen auf dem Weg zur Bahn.
Wär gern länger geblieben, doch eins ist klar: Unsere Wohnzimmer werden nie die Größe der Wohnzimmer unserer Eltern erreichen, weil wir nicht lange genug darin sitzen – ganz zu schweigen von der Größe der Wohnzimmer unserer Großeltern.

31. Dezember 2014 19:08










Christine Kappe

Kabakovs Fliege

Und da sehe ich eines Morgens, lange vor Sonnenaufgang, „Kabakovs Fliege“: in Gestalt einer lebensmüden Wespe sitzt sie an der Briefkastenanlage in der Wilhelmstraße 6 und wärmt sich im Licht der Außenbeleuchtung. Es ist ein milder Herbst, aber sie wird nicht mehr lange zu leben haben. Sie bewegt sich kein Stückchen, während ich die Zeitung einwerfe, was für dieses kleine Tier ein plötzlicher Sturm, ein kleines Erdbeben bedeuten muss.
Die Fliege war – bevor Kabakov über sie schrieb – ein kulturell wenig aufgelades Motiv, mies gezeichnet, hing sie, vergilbt, herausgerissen aus einem Kinderbuch, umgeben von gnoseologischer Leere, auf seiner Veranda.
Meine Wespe ganz ähnlich: farblich matt, leblos, angestrahlt von einem überdimensionalen Schweinwerfer, als würde sie auf einer Bühne stehen, um sie herum schwarzes, rein funktionales Metall, rostfrei, welches sich nur wenig aus der lichtlosen Nacht herauslöst, Nacht, oder endloses, dunkles Häusermeer. Die Erscheinung weist in zwei Dimensionen: Einmal begegnet mir hier ein Fitzelchen von der riesigen Natur. Andererseits zeigt ihr resthaftes Dasein, wie der Mensch die Natur nicht achtet, sie quasi neben ihm herexistiert.
Das Ignorieren dieser Parallelwelt ist gleichzeitig die Bedingung für unsere Verwunderung, unser Erschrecken: Ist es nicht übertrieben, diesem winzigen Wesen so eine Aufmerksamkeit zu geben? Und wir ahnen: Nein, ganz im Gegenteil, hier IST etwas, während wir nur sein wollen.

22. November 2014 00:41










Christine Kappe

Nachtschnittplatz 1

Auch hier spitzen sich die feindlichen Lager zu: Siggi und Jörg reden nur noch per Rechtsanwalt miteinander. Der eine ist Idealist und Tontechniker, der andere Realist und Chef. (Dabei wird das Digitale uns letztlich überflüssig machen.)
Der Zusammenhang von Weltuntergang, Idealismus & Herzfehler! „Gebe dem Sender noch ein paar Monate.“ Mit Siggi allein in der Sendeabwicklung. Die Apparate flackern, der Ton schallt über den Bahnhofsvorplatz, auf dem sich der Verkehr staut – ein Meer, das gerade Flut hat – weil die Lokführer mal wieder streiken.
Siggi erklärt mir etwas, was ich gar nicht verstehe, weder akkustisch noch sonst irgendwie.
Einer der Kameramänner hat eine brennende Zigarette aus dem Fenster geworfen, sie ist unten, in einem der teuersten Restaurants der Stadt, auf einen Stuhl gefallen, der zu brennen anfing. Die Inhaberin des Lokals steht nun mit dem verkohlten Polster im Türrahmen und hält uns von der Arbeit ab. Aber wir berichten, glaube ich, ganz objektiv.

23. Oktober 2014 13:01










Christine Kappe

Zustellversuch 10

für Richard Götting

04:35, Beyertour. 3 Meter vorm Ort, an dem morgen die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ stattfinden, muss ich eine Vollbremsung machen. Nicht etwa, weil ich die Absperrung im Dunkeln nicht gesehen habe, sondern das Entenweibchen, welches mir graubraun vors Rad lief. Soetwas ist mir hier noch nie passiert, normalerweise bleiben die Enten im Wasser, aber klar, jetzt fällts mir wieder ein, jetzt, wo meine Augen den Maschsee vergeblich suchen: stattdessen bloß eine weiße Folie sehen, wie eine Wand – ein Künstler hat ja zu diesem Anlass den Maschsee verhüllt, 78 Hektar! Ob das nicht ein bisschen übertrieben war? Und offenbar hat niemand an die Enten gedacht.

Der Wächter, den ich aufgeschreckt hatte, zündet sich mit knirschendem Feuerzeug eine Zigarette an. Ich fahre weiter, um die ungeraden Adressaten noch mit Zeitungen zu beliefern. In den Vorgärten rascheln hie und da die vertriebenen Enten. Vertrieben wie wir Menschen sowieso hier auf Erden, da kamen wir neulich mit Ric drauf: Der Mensch, der als einziges Lebewesen sich selbst auszurotten in der Lage ist, muss doch von einem anderen Planeten stammen. In Geibel 75 kauert ein verletztes Amselweibchen auf der Treppe. Es schaut mich mit Kulleraugen an und ich hätte es am liebsten mitgenommen. Ein paar Häuser weiter begegne ich einer ausgehungerten, streunenden Katze. Arme Amsel, denke ich. Doch es ist eigentlich nicht schrecklich.

2. Oktober 2014 10:15










Christine Kappe

Zustellversuch 9

Haus Tanneneck. Mein Kuli ist leer, deswegen muss ich mit dem Einschreiben bis an die Haustür, hätte sonst n Kreuz gemacht, dass ich niemanden angetroffen habe und das ganze in den amerikanischen Postkasten neben dem Tor geworfen. Ausgerechnet hier, wo ich durch einen großen Vorgarten muss, mit dem Wissen um die Existenz eines bissigen Hundes! Die Adressatin nimmt das Einschreiben und macht gleich wieder die Tür zu. Ich kann gerade noch hinterherrufen, ob sie einen Kuli hat, während der Hund in den Tiefen des Hauses wild bellt. Die Frau lässt auf sich warten, hat sie’s überhaupt gehört? Oh je: die Postzustellurkunde hat sie mitgenommen… Im Türschlitz die Zeitung noch von heut früh. Im gleißenden Sonnenlicht lese ich: Die ukrainische Führung erlaubte unterdessen der Polizei im Konfliktgebiet, auch ohne Waffen zu schießen. «Dies erhöht die Sicherheit der Milz.» Ich überlege, wo die Milz sitzt, aber ich komm nicht drauf. Viel zu wenig weiß man… Da öffnet sie die Tür wieder, einen kleinen Spalt und sagt zur Entschuldigung: „Ich will nur nicht, dass der Hund wegläuft. MUSS ich unterschreiben? – Ich habe ALLES bezahlt!“

12. September 2014 12:46










Christine Kappe

Den ganzen Tag schimmerte ein Film durch:
für einen Traum zu lang
– für ein voriges Leben zu kurz

21. August 2014 09:26










Christine Kappe

Zustellversuch 8

Clemens 5. 4 Uhr 10. Ich lehne mein Rad an die Hauswand, ein Fenster im Erdgeschoss wird aufgerissen, hoffentlich habe ich niemanden geweckt. Schnell die Haustür aufgeschlossen und mit den Zeitungen hinein. Als ich wieder rauskomme, steht das Fenster noch offen; bestimmt lüftet bloß jemand. Doch als ich weiterschieben will, stellt sich ein Mann mit nacktem Oberkörper ans Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Wir blicken uns kurz in die Augen, keinen Meter voneinander entfernt, keiner hat den anderen erwartet, ein ‚guten Morgen‘ scheint sinnlos, es ist noch nicht Morgen, jeder schämt sich ein bisschen, er räuspert sich, ich bringe die Zeitungen durcheinander im nächsten Haus… Mensch, es ist Sommer, und die schönen alten Häuser und das Kopfsteinpflaster, es könnte idyllisch sein, aber es ist nur das Ende einer unruhigen Nacht, die Stadt wartet schon, die Zeit- und Menschenfressende Maschine.

30. Juli 2014 10:21










Christine Kappe

geradezu beruhigend

Wir lagen alle erschossen umher. Dann kam der Geheimdienst und wollte aufräumen. „Wer hat hier wen erschossen?“, fragten sie in drohendem Ton. Ich gab vor, das erkenne man doch an der Farbe unserer Jacken. Die ganze Zeit musste ich meinen linken Arm an der Schulter festhalten, weil er sonst heruntergefallen wär. Ich verspürte schrecklichen Durst. Mann war ich erschöpft. Hätte ich vorher gewusst, dass Totsein so anstrengend ist! Unter den Umständen war es geradezu beruhigend, dass sie uns mit Sicherheit festnehmen würden.

10. Juli 2014 12:04