Christine Kappe

Die Briefe meines Vaters

Ich kann mit meinem Vater prima über Probleme reden,‭ ‬aber zwei Tage später kommt ein Brief,‭ ‬in dem er alles erklärt und ins Weltgeschehen einordnet.‭ ‬Und dann kann ich ihm nicht mehr glauben.‭ ‬Meist möchte ich den Brief gar nicht lesen.‭ ‬Schade eigentlich.‭ ‬Aber ich sehe,‭ ‬dass mein Vater es gut meint.‭ ‬Da ich nicht will,‭ ‬dass er denkt,‭ ‬ich hätte den Brief nicht gelesen,‭ ‬überfliege ich ihn kurz,‭ ‬um ihm wenigstens antworten zu können,‭ ‬wenn er mich dazu fragt und um ihm ein gutes Gefühl zu geben.‭ ‬Ich finde,‭ ‬das ist eine viel ehrenwertere Motivation,‭ ‬als die,‭ ‬den Brief verstehen zu wollen.‭ ‬Aber mein Vater sieht das nicht so.‭ ‬Mein Vater wird zutiefst enttäuscht sein,‭ ‬wenn ich nicht versuche,‭ ‬seinen Brief zu verstehen…‭  d.h.‭ ‬wenn ich ihn als Mensch sehe,‭ ‬wird er mich als Unmensch sehen,‭ ‬und wenn ich ihn als Unmensch sehe,‭ ‬könnte ich ihn nicht verstehen…‭ ‬und wenn ich ihn nicht verstehe,‭ ‬wird er wütend werden und mir einen weiteren Brief schreiben.‭

11. Juni 2013 11:33










Christine Kappe

Schwarz und Weiß

Die verschiedenen Schwarztöne, die Kinder wollen immer im Dunkeln spielen, von meinem Ich ist nur Schwarz übriggeblieben, das Schwarz zwischen den Lichterketten, das Schwarz des Kaffees, das Schwarz der verlassenen Wohnungen, des Spaniers im Dachgeschoss; er arbeitet schon wieder, läuft im weißen Arztkittel über den Flur, spricht mit jemanden, den ich nicht sehe und wünscht verlegen ein ‚frohes neues Jahr‘; die schwarzen Fäden in seiner Haut; durch Wunden in Menschen dringen, erst abgestoßen sein, dann nah.

Der Wind zupft sanft an den kahlen Ästen, das Bodentuch über der Balkonbrüstung bewegt sich nicht,  ist gefroren. Die Beeren fallen jetzt mehr auf als im Sommer. Sie hängen an knochigen Zweigen: rote an den Bäumen, orange und weiße an den Büschen. Die Weißen sind am wenigsten schön, sie leuchten aber, spenden Hoffnung, vermutlich weil man sie aus dem Sommer zu kennen glaubt. Das Weiß der Birken, der Häuserwände, der Wolken hat nicht so viel Licht wie sie. Wenn ich Malerin wär! Keine Worte machen, um das Herz besser hören zu können. Durchscheinen der Grundkonstruktion Mensch.

6. April 2013 12:56










Christine Kappe

Stöcken 1

Einer der ersten sonnigen Tage in diesem Jahr. Wir wollen ein Picknick machen, doch ein Junge bedroht uns mit einem überdimensionalen Maschinengewehr; es ist bunt und kann sprechen. Vor einem Jahr noch hätte ich nichts gesagt.

Kurz danach rät mir eine Frau in der Bahn, die Stirn nicht in Falten zu ziehen. Ich würde ja älter aussehen als ich sei. Sie hat eine Kerbe in der Lippe, die beim Sprechen zu bluten anfängt. Ich stelle mir vor, wie weh das tut; sie aber lächelt auch noch.

19. März 2013 10:51










Christine Kappe

im März

die Zeit kriecht mir kalt in die Ärmel
eine Art Tod
irgendein noch zu bestehendes Abenteuer

eine Frau zerteilt Pfützen mit dem Kinderwagen
das Kind – von der Sonne geblendet – schreit schrill
ich zweifele an seiner Echtheit

Sonne erhellt nicht immer, immer aber gibt es zwei Bilder
eins ist wahr, das andere hell

10. März 2013 11:10










Christine Kappe

Momente / Memos III

Graue Nachmittage im Spätwinter. Wer nicht allzu krank ist, huscht zum Einkaufen. Jannek z.B. Es ist unklar, wie wir uns begrüßen sollen, ohne Bakterien auszutauschen. Aber die eigentliche Krankheit ist doch der Winter. Oder die langandauernde Herbst-Depression von Herbert.
Jannek schiebt die russische Fellmütze ins Genick, die sein Gesicht verdeckte. Eigentlich mag ich ihn und sein Suchen nach den treffenden Worten, das nie ein Ende findet. Wer weiß. Wer weiß, warum Herbert Jannek nicht mehr mag.
Und wer weiß, wenn ich früher erkannt hätte, dass Herbert viel kränker ist als Jannek, vielleicht hätte ich dann mit Jannek über Herbert geredet und vielleicht hätten wir Herbert dann helfen können. Jetzt… huschen wir wieder unserer Wege („Mami, kennst Du diesen Mann?“), und den letzten beißen die Hunde, aber Herbert beißen ja noch nicht einmal die Katzen.

20. Februar 2013 14:23










Christine Kappe

Zustellversuch 3

Krausen 11a: Durch den langgezogenen Glasbaudurchgangseingang, der zur Briefkastenanlage führt, schaut man in den hinteren Teil der Kaffeerösterei. Oft sitzt hier ein Mann an einer alten Kaffeebohnen-Sortiermaschine beim Licht einer gusseisernen, mit zwei rostigen Gewichten stabilisierten Schreibtischlampe. Aus einem grobgewebtem Jutesack fallen die Bohnen auf ein von der Lampe beleuchtetes, langsamrüttelndes Förderband, von dem aus sie auf eine Rutsche unter dem Tisch rollen, über die sie sekundenschnell in einem Kanister verschwinden – bis auf jene, die der Mann mit einem Kugelschreiber vorher zur Seite geschnippst hat, jene etwas helleren und jene etwas dunkleren, jene etwas schrumpligen, gefleckten, kleineren, zerbrochenen… Wenn der Mann dort nicht sitzt und die Maschine stillsteht, im Dämmer, im Un-Licht, liegen die nicht gewollten Bohnen mit ihren unterschiedlichen Brauntönen und Formen in ehemaligen Marmeladengläsern oder einfach nur herum.

30. Januar 2013 17:21










Christine Kappe

Zustellversuch 2

Wrede 2. Seltsame Angewohnheit, Hauseingänge in Tordurchfahrten zu bauen…. Hier zieht es immer. Die silbernen Knöpfchen der Klingelanlage leuchten, aber klingeln nicht. Wenn es besonders ungemütlich ist, schreibe ich vorher schon „K.E.“ auf die Briefe und steuere Wrede 1 an, denn ich muss mich beeilen, nachher schlafen die Kinder, ohne dass ich mit ihnen geredet habe und ich kann nichts machen, außer mit den Tellern klappern. Die Söhne des Kioskbesitzers rufen mir von weitem etwas zu; der eine hat ein Mädchen dabei, welches jetzt nach links abdriftet, die Söhne verschwinden im Kiosk und kommen mit zwei Dosen Bier und zwei neuen Frisuren wieder heraus. Es ist kurz nach 10.

22. Januar 2013 09:01










Christine Kappe

Zustellversuch 1

Zustell-Ende in der Heinrich-Heine. Ich geh kurz vor eins noch beim Bäcker rein. Bevor ich mein Brot bestellen kann, kommt eine ältere Frau hereingestürmt. „Ich muss mal kurz stören, ich hab was ganz Blödes gemacht. Ich habe zwei Tüten mit Kleidern in den Altkleidercontainer geworfen und meinen Schlüssel samt Portemonaie hinterher!“ Ihre Panik flirrt in der Luft. Die Bäckerin zwinkert: „Die ist immer so. Auch wenn sie nicht ‚was ganz Blödes‘ gemacht hat.“ Ich gehe mit der Frau hinaus, gebe ihr mein Handy; aber sie kann damit nicht umgehen. Kurz darauf hänge ich in Warteschleifen und fremden Geschichten. Gerade will ich fragen, was ich auf den AB sprechen soll, da sehe ich, wie sie in den Container klettert… Pünktlich Feierabend machen, mit einem Brot in der Tasche, davon träume ich nur.

22. Dezember 2012 14:59










Christine Kappe

Momente / Memos II

Traum, am Nachmittag, auf dem Sofa, nach dem Zähneziehen, dass die Umkleidekabinen der Turnhallen in meiner Kindheit immer unvorstellbar hohe Decken und Fenster hatten, und dass der Junge, mit dem ich dort am liebsten tobte, behauptete, er würde schon seit 5 Jahren in unserer Wohnung wohnen; wir rangelten uns, und das tat natürlich viel mehr weh, als wenn unsere Eltern uns schlugen, aber darüber beschwerten wir uns nicht.

6. Dezember 2012 09:42










Christine Kappe

Momente / Memos I

MHH. Im Zimmer wurde es immer dunkler, niemand von uns wollte das Licht anmachen (es war zu hell), wir saßen einfach nur da, waren einfach nur da. Ben und ich warteten auf meine Entlassung. Ingrid hatten sie gleich wieder zugenäht, als sie gesehen hatte, dass alle Organe befallen waren. Mir war schleierhaft, wie sie das aushielt, was sie dachte. Ihr Sohn war ruhig, schön, traurig, im langen schwarzen Mantel und einem Alter, von dem wir nur träumen konnten. Ihr Mann fasste es zusammen: „Du bist halt was besonderes.“ Von unten drangen den ganzen Nachmittag die Geräusche der Gärtner durchs gekippte Fenster. Es gab viel zu ordnen für sie. Ich musste an meinen Bruder denken. Wenn er nur halb so lange wie ich hier warten müsste, hätte er einen Anwalt eingeschaltet.

28. November 2012 22:29