Hans Thill

Erster Schritt ins Fenster

Soba (Zimmer), More (Meer), Cape Maybe und
ein auf Sandalen gebauter Himmel Himalaya. Neon Lyra,
Mädchen im Mandolinenslip, beim Zählen der Vögel, der
Plastikflügel über Illyrien. Hotel Donau, hier endet
Edekobe, fest stehen die Karawanken, wo der Srebrobär
sein Sägemehl frißt wie wir die Sprachwolken.
Auf deinen Augen, inneres Mädchen, rudern wir
für einen Würfelzucker, für eine Handvoll vergessener
Kirschen, für die geworfene Peperoni der Revolution.
Teheran. Genosse Absolut an die Korinther: Ha! Ha!
Upha! Gebt mir ein Blei dann rufe ich die Heilsarmee
der Worte. Johann Köhl, der die Klarinetten zählt, die
toten Fische im blauen Kaltwasser. Alte Wasser, bittere
Früchte. Wir küssen das Meer. Strah (Angst), Ime (Name),
Prah (Staub)

Begrüßungsgedicht für Tomica Bajsic, Gordana Benic, Ivana Bodrozic Simic, Branko Cegec, Delimir Resicki, Zvonko Makovic, Urs Allemann, Arnfrid Astel, Kurt Drawert, Ann Cotten, Karin Kiwus. Poesie der Nachbarn Kroatien. Edenkoben 24.6.2009

25. Juni 2009 09:43










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter XXX: Abdelkebir Khatibi

Gedächtnis-Notizen (für Männer)

Er sagt: gib mir dein intimes Denken.
Sie sagt: gib mir sein Einverständnis.

Sie sagt: ich selbst bin fremd meiner Umarmung.
Er sagt: in der Reglosigkeit des Begehrens ohne ein Morgen.

Sie sagt: der Engel erscheint den Frauen nicht.
Er sagt: er erscheint und verschwindet, dabei mißt er die Entfernung.

Er sagt: ich schenke, empfange dich, indem ich dich anerkenne.
Sie sagt: stell dir vor, du wärst verfolgt, aufgelöst in deiner Kindheit.

Sie sagen: soviel Lust für eine flüchtige Nacht.
Sie sagt: jede Nacht wendet sich ab vom Tag im Aufblitzen eines Augenblicks.

Er sagt: schreib!
Sie sagt: vergiß dabei die Götter und ihre Engel.

18. Juni 2009 12:26










Hans Thill

Martin Zingg

Seit der Romantik hat man sich immer wieder die Frage gestellt, was ein poetisches Leben sein könnte. Vivre poétiquement: für Baudelaire hatte der Dichter cool zu sein, Jarry fuhr mit dem Fahrrad durch Paris, eine Flinte auf dem Rücken, Brecht ließ die Zigarre nie ausgehn. Ganz anders Martin Zingg, für den das poetische Leben Engagement und unermüdliche Tätigkeit bedeutet. Als junger Mann hat er die Zeitschrift Drehpunkt begründet (zusammen mit Rudolf Bussmann), die nicht nur für die schweizer Literatur ein solcher geworden ist. Er hat in 25 Jahren 125 Nummern herausgegeben, bis ins Jahr 2006. Er ist ein einfallsreicher, verlässlicher Vermittler, Rezensent, Übersetzer, Journalist. Er schreibt konzentrierte, eigenwillige Gedichte, die man viel zu selten liest. Das soll jetzt anders werden. Willkommen, Martin Zingg, im Goldenen Fisch!

4. Juni 2009 18:15










Hans Thill

Lied der Waende

vezlay-grundriss2

Lied der Waende: Emmausjuenger
beim Schmaus darueber Christ Geburt
und Betung. Bernhard weckt das Kind
Nathan schimpft David einen Taeu-
fer da zeigt sich Magdalena
der Fuerstin von Provence Samson
schmeisst den Loewen Maenner essen
Reben. Drache mit Dame Apo-
kalypsepaar. Joseph und zwar
mit Frau Potiphar. Jakob wird
von Isaak geweiht. Peter und
Paul beten. Olifantenen-
gel. Antonius und Paulus
essen auch. Versuchung Bene-
dicti Kains Tod. Apostel
schreiben Reden auf Stein. Bauer
schneidet Brot. Einer friert einer
wirft den Rock ab. Wein wird geschnit-
ten. Einer huetet Schafe. Ein
Krieger stuetzt sich auf sein Schild. Ein
anderer maeht. Gaukler Hund Si-
rene. Schnitter. Bauer drischt sein
Korn. Bauer kippt es in die Hip-
pe. Ernte des Feldes. Bauer
sticht sein Schwein. Mann traegt alte Frau
auf Schultern. Mann haelt den Kelch mit
Wein. Omnibus in membris de-
signat decembris. Wein der Waen-
de. Blondine des Testaments
hier liegstu Stein und Estrich
decken Dich. Wir hueten Deine
Reste wie Nuesse aus dem Gar-
ten Jesse. Wir Inder mit dem
Hundekopf. Wir Rabenvoegel.
Wir Pygmaeen legen die Lei-
ter des Gebets ans Pferd. Fenster
der Nacktheit fliegen in den Him-
mel. Die leere Welt giesst sich aus
im schwarzen September Acht.

Par respect pour se site ne
pas se tenir aux grilles.
Hier haelt man sich nicht an Gittern:
Do Mi Si La Do Re. Haus des
Herrschers aller Noten. Lied
der Waende.

24. Mai 2009 17:24










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11
Erinnert sich an eine Geschichte, in der eine fliegende Hand durchs Fenster kommt. Er ueberlegt, womit man so eine Hand fuettern koennte, doch daran erinnert er sich nicht

Er steht vor einem Haus, liest sein Fachwerk Balkenalphabet. Er befragt den Buchstaben e
denkt an den Reissnagel auf Perecs Schreibmaschine, er klappt das Buch zu wie Kublai Khan seinen Atlas

Der Sohn des Pharao wird von einem Racheengel getoetet. Moses und das goldene Kalb. Angreifende Elefanten

Er denkt an die verschiedenen Formen des Fallens, zaehlt sie auf. Aus der Autotuer, dem davonrollenden Pfirsich hinterher. Die Stufen eines Podiums hinauf, einen uebergrossen Blumenstrauss in den Haenden, im Begriff, eine Festrede zu halten. Kinder im Arm, alt und mit einem Kopftuch. Die Wolken fallen der Sonne entgegen. Graeber fallen den Himmel hinauf usw

Er liest, fuehrt ein Selbstgespraech korrigiert gesagte Dummheiten, schaemt sich fuer Vergangenes. Er denkt den Satz: Das geht mir nach. Tröstend die getunkte Magdalena aus einem eigenen Gedicht

13. Mai 2009 16:03










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Liest Hinweisschilder als Befehle. Staedte waeren Brunnen, Doerfer haetten einen heiligen Schaedel. Entfernungen sind Kombinationen eines Geheimdienstalphabets

Er hat eine Ahnung. Er beruehrt keinen Pilz, keine Schraube, keinen Strassennagel

Legende der heiligen Eugenia. Der Basilisk und die Heuschrecke. Das Begräbnis des hl. Paulus

Er sieht die Baeume welken, die Steine zerbrochen unter den Flechten, er weiss nicht, was das fuer ein Zeichen ist und ob er es befolgen soll. Er sieht in der Kirche einen dicken Mann singen, neben ihm eine maechtige Frau im schwarzen Haengekleid, die ploetzlich ebenfalls zu singen beginnt

Er sieht ein, das Wissen hat die Voelker traege gemacht. Es hat ihnen die Hosen gekuerzt, die Schenkel wurden fetter. Er sieht die Wissenden den Berg hochrennen mit wippenden Rucksaecken. Er vergisst in einer ungeheuren Anstrengung alles, was ihm eingepraegt wurde und wischt sich mit einer herrischen Geste die Nase aus dem Gesicht

2. Mai 2009 12:00










Hans Thill

Stele

Idea Vilariño
(1920 – 2009)

Gedicht Nummer 19

Ich möchte sterben. Ich möchte
Keine Glocken mehr hören.

Glocken – was für eine Metapher –
o Sirenengesänge
o Feenmärchen
Märchenonkel – gehen wir.

Ich will einfach keine
will einfach keine Glocken mehr hören.

(eigene Übersetzung)

29. April 2009 23:30










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Liest jetzt ein anderes Buch, das ihn langweilt, aber voll von Woertern ist, aus denen etwas wachsen moechte. Er sieht neun Gesichter mit jedem Auge und im linken noch als gruenen Fleck den Rest eines Insekts. Er sagt sich, er gehe durch einen Traum, aber es ist nur das langweilige Buch mit den wachsenden Namen, das ihn aengstigt

Er hat eine Ahnung. Er beruehrt kein Kabel, keine Ader, keine Wasserleitung. Ein Sonnenstrahl macht noch keine Wueste. Eine Luft macht noch keinen Hurrikan

Die Befreiung des hl. Petrus. Der Kampf des Guten mit dem Boesen (Kopie). Die Hinrichtung von Sauls Moerdern

Er findet eine Tastatur fuer lange Saetze, Komma und Semikolon sind leicht zu finden, der Punkt muss generiert werden. Sein Code ist das Haus des Herrn in Notensprache: Do Mi Si La Do Re.

Er sieht den Himmel als Teppich. Den Garten als Grundriss des Himmels. Er hoert wieder Stimmen. Die Sprache der Wespen

Kublai Khan und Marco Polo zwei Penner im kurzen Hemd mit grosser Plastikflasche, einer schwarzen Tinte und einer Tuete zermahlener Kekse, bedraengt von Sheriffs in den unterirdischen Kanaelen Frankfurts Rohrpost

Er sagt: Vézelay ist ein Esel in Burgrund. Ein kahler Ruecken, gekroent von Steinen. Er sagt: Reime sind Insekten. Er sagt: der Morgen haengt an meinen Fersen, an meinen Fersen haengen Wolken, ein Duesenjaeger springt mit Laerm durch den Himmel, der ein Teppich ist

13. April 2009 10:12










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Lebt in den Geraeuschen zur Abwehr von Gedanken. Ein kurzes Husten und die Ideen waeren aus der kuehlen Kammer verschwunden. Sie sind bei den Gespenstern, die um Einlass in die Arche Noah betteln

Jeder Gedanke stiehlt etwas aus der Welt

Daniel in der Loewengrube. Angreifende Loewen. Die Welt in Anbetung vor dem Kreuz (Kopie)

Er liest ein Buch, das ihm nicht gefaellt. Er findet
einige Gedanken zu Schlaeuchen zusammengerollt und ein paar Geraeusche, die wie Kinder die Wiese hinaufkommen

Er erkennt die Fragen seiner fruehen Jahre. Er sieht sich als Schatten auf dem Ruecken liegend. Er sieht Voegel auffliegen und schliesst auf ein Geraeusch, das er nicht hoert. Er haelt das Buch in der Schraege, damit die Fluessigkeit ablaufen kann

Jetzt gefaellt ihm das Buch. Er findet eine Seite, die ihm perfekt erscheint. Es treten auf: der prahlerische Soldat, der Schmarotzer, der traurige Matrose mit dem Papagei. Der junge Verschwender, die Dirne treten nicht auf, haetten aber Raum genug, ein andermal. Dafuer gibt es den geizigen Vater, die verliebte Tochter, den albernen Diener. Der Barbar erkennt, dass das Buch geschrieben wurde, um diese Seite zu vermeiden. Dass sie aber schliesslich doch geschrieben und in diesem Buch versteckt wurde. Als Tuerschwelle, Balken

7. April 2009 23:12










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Spricht zu den Steinen mit der hohen Stimme einer Frau in den Coloraturen der Hoeflichkeit

Er besitzt einen Kugelschreiber und ein grosses Haus mit Garten, mehr nicht

Er beginnt ein Alphabet. Das Wort »absolut« soll heissen: geloestes Gewuerz, lange Klinge. »Glottis« waere: Aufzaehlung alter Stimmen nach der Reihenfolge ihres Hinscheidens. »Tartar« ein Kaiser der Barbaren, tatenreich usw

Lehrer und Schueler. Der hl. Martin und der Baum der Heiden. Weltliche Musik und der Teufel der Unreinheit

Er sagt: ja, kann man. Er nimmt das offene A aus der Liste, erbost ueber das O. Welcher Buchstabe hat keine Zunge? Was braucht das Q?

Er legt sein Ohr an die Hand, sagt: mobile. Eine Sprache, den Kindern von Wespen eingeimpft mit
dem Stachel der Schrift

In jeder Zeile hoert er den Stock des Blinden.
Klopstock. Eich, fuenf Punkte am Arm, Binde
des Blinden, Sellerie der Anarchie usw.

Zuechte Wespen. Die Kerze der Wespe festziehen.
Zeuge die Ameisen unterm Stein

31. März 2009 21:52