Markus Stegmann

Empfindlich

Frau Atnan sagt, ich solle nicht immer so empfindlich sein. Sie könne gar nichts mehr sagen, ohne dass ich nicht mit höchster Empfindlichkeit reagiere. Man könne mit mir nicht mal mehr ein normales Gespräch führen. Sie habe gut reden, antworte ich, sie könne sich gar nicht vorstellen, was sie mit ihren Worten in mir auslöse, es fehle ihr dafür das Vorstellungsvermögen, denn ich hätte eine ganz andere, wesentlich unglücklichere biografische Konstitution als sie. Sie wolle mich wohl mit Schweigen abstrafen, indem sie mir keine SMS mehr zukommen lasse, obwohl ich mich bei ihr für meine jüngste Empfindlichkeit in aller Form entschuldigt habe, wenngleich ich im Innersten der Meinung sei und dies an dieser Stelle denn doch mal laut sagen wolle, dass ich mir meine Empfindlichkeiten nicht einfach aussuchen würde, im Gegenteil, dass sie mich ungefragt heimsuchten und mir in den Nächten unsägliches Leiden zuführten. Ihr Schweigen diene mir dazu, mich zu besinnen. Wenn sie aber fortgesetzt schweige,  müsse ich ihr Schweigen mit Schweigen beantworten, um mein Gesicht nicht zu verlieren, aber dann litte ich noch mehr, dann sei die Empfindlichkeit noch grösser, ob sie daher nicht doch wieder etwas sagen könne, und sei es nur etwas Beiläufiges.

11. Januar 2016 23:13










Markus Stegmann

Bin ich Frau Atnan, aber warum?

Frau Atnan sagt, der Krieg sei das einzige, das sie jetzt noch reize. Das dürfe sie aber nicht sagen, das sei Kriegsverherrlichung, da drohe Strafe, meine ich, aber Frau Atnan ist schon fort. Und die Frau Glas, die solle bitte folgen, und ich, ja ich würd mich sowieso nicht trauen. Frau Glas, warum Frau Glas, das war doch Hugo Ball? Vielleicht befinde ich mich im Krieg und nicht Frau Atnan. Wir verwechseln uns, aber warum?

7. Januar 2016 23:10










Markus Stegmann

Auswendig gelernte Kehlen

Tatortloser Dezember
laminierte Asche meines
Vogels verflogen
sich zwei Lilien schreibst du
unsere Hände
in Papier
gewickelter Film
Kleiner Wannsee blühte
im Irak rekapitulierter Bilder
transponierter Tempel
wessen
auswendig gelernte Kehlen
trieben
mit ausgefalteten Flügeln
langsam
den Wannsee hinaus
hantierte ich wohl
mit falsch
verbundnen Lippen

27. Dezember 2015 22:29










Markus Stegmann

Schuld am Krieg

Frau Atnan sagt, ich sei schuld am Krieg, ich allein sei schuld. Ich antworte Frau Atnan, dass das nicht sein könne, weil ich zum Zeitpunkt des Kriegs noch gar nicht gelebt hätte. Mein Leben habe erst geraume Zeit später begonnen. Frau Atnan sagt, ich sei trotzdem schuld, weil ich den Krieg im Blut hätte. Ich antworte Frau Atnan, dass ich den Krieg weder in meinem Blut wünschte noch ihn darum gebeten hätte, sich in meinem Blut bemerkbar zu machen. Und überhaupt, was solle das heissen, einen Krieg im Blut zu haben? Genau genommen meine sie: Kriegsgefahr. Von mir ginge Kriegsgefahr aus. Ich versichere Frau Atnan, dass ich in der Vergangenheit nie Krieg geführt habe und auch in Zukunft nie an Kriegsführung denken würde. Frau Atnan sagt, es sei das Potential, das an mir kriegsgefährlich sei. Ich würde von ehemaligen Kriegsteilnehmerinnen und -teilnehmern abstammen, infolgedessen sei ich gefährlich, weil ein potentieller Kriegsteilnehmer oder, noch schlimmer, ein potentieller Kriegsverursacher. Ich antworte Frau Atnan, dass sie mir bitte sagen möge, wer auf der Welt ohne kriegsführende Vorfahren sei. Frau Atnan sagt, dass sich genau damit alle Kriegsführenden reinwaschen würden und den Krieg von Generation zu Generation legitimierten.

15. Dezember 2015 22:45










Markus Stegmann

Mein Grab, dein Grab

Ich sitze auf meinem Grab, und es geht mir gut. Vielleicht bist du ja auch tot, nicht nur ich. Vielleicht sitzt du auf dem Grab neben mir, und ich kann dich nur nicht sehen. Wenn ich das Gefühl habe, auf meinem Grab zu sitzen, wäre immerhin vorstellbar, dass etwas nicht stimmt. Warum sollte ich tot sein ohne dich? Wenn es mich betrifft, warum betrifft es dann nicht dich? Warum betrifft mein Tod immer nur mich? Ich möchte es nicht immer mit mir zu tun haben. Ich würde gern gelegentlich von mir absehen und die Lage von ausserhalb betrachten. Wenn du auf deinem Grab neben mir wärst, könnte ich dir wenigstens zuwinken. Selbst wenn du ein paar Gräber weiter entfernt wärst, könnte ich winken. Aber warum winken, frag ich mich, warum nicht mein Grab verlassen und gemeinsam auf deinem Grab sitzen? Fühlte ich mich auf meinem Grab wohler, als auf deinem? Aber warum? Und wenn du auf deinem Grab gar nicht bist, wo bist du dann?

19. November 2015 22:04










Markus Stegmann

Warum?

Zwischen Fingern
tastete
ein Gesicht
zögerte und begann
aber
welcher Sog zum Tod
aus nahen Haaren
verformte sich zwischen
verwunschenen Lippen
die letzten Zentimeter
schienen die schwersten
als läge
auf kürzester Distanz
ein
Fassen/Unterlassen?
kaum hörbares Wimmern
im dünnen Luftstrom
am Nabel verliess
grauer Morgen
schlafendes Schilf
klammer Mund hing dort
warum
verfiel unser Mond?

6. Oktober 2015 21:49










Markus Stegmann

Bist

Wenn du Teufel
bist
verzehr ich mich.

19. Juni 2015 22:08










Markus Stegmann

Ich lag im Gras bei Essertfallon

Ich lag im Gras bei Essertfallon
endlose Butterblumen als Butterblumen
in unseren Himmel sickerten ins Blut
durchs Tal und versteck dich
wo bist du warum
verrinnen wir in der Wiese
fotografierter buchstabierter Morgen
nochmal Morgen
schwimmst du raus in den See
ins klare Wasser
schreibst du
und heut ist weisst du wie das ging
alles verhing weiss nicht
warum nur legte ich meinen Arm
nicht beim abendlichen Licht
der Alpen
ans Ende der Welt

Ich lag im Gras bei Essertfallon und
dachte an dich
Ich lag im Gras bei Essertfallon und
du lagst neben mir

Um wenigstens
auf der Festplatte
der blauen Rettung
deine Worte
zu löschen

15. Mai 2015 21:01










Markus Stegmann

Medusa

Marmor verflogner Staub
im Kopf versteinertes Bild
zwischen Alraunen heller
als weiss atme ich schwach im
Verfliessen transitorischer
Trochäen auf Tromsö oder
war es Troja reiben wir uns
wund weder im Süden noch
im Hinterzimmer deines Films
bei verbotenen Spielen der Nacht
über Basel verflog dein Mund
versank ein Mond verschwand
im Nachtmeer der Stadt
frier ich mit deinen
porösen Bildern meines
Lebens die filigranen Falter
deines Films wickeln
das schwindende Paradies
in ein stummes Tuch

25. März 2015 23:23










Markus Stegmann

Makulatur

Palastwind Passat ganz fadengrad
geleerte Reste Andromeda dein
Anfang steht auf Belgien sagst du?
falscher Fisch oder wie verfing
im Rückgrat sich meine Galeere
passt halbleere Schwere Partitur
praktiziertes Benzin Vitamin
im Lidschatten deiner Meere
verformte sich oder zerteilst
du dich Holofernes‘ blinde
Passagiere ging wohl
fehl versehentlicher Gast
dragging the bone
blast Warlop Partitur
Palimpsest piano
Makulatur

17. März 2015 23:40