Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (1)

29. Mai 2015, ein Freitag.

In einigermaßen gedämpfter Stimmung startete ich in diesen Geburtstag, obwohl ich immerhin neben Kitty erwachte. Aber was sollte er bringen in dieser allzu dummen Zeit, in der soeben die Einnahmequelle versiegte, die Zukunft offen bis leer, die Projekte ohne Zahl (nämlich null) und die Wohnsituation nur leidlich (Fortsetzung der Untermiete) gelöst ist? Nichts ist vorbereitet, keine Party, keine Einladung.

Kitty sagte: Lass uns laufen. Also gingen wir laufen. Ein guter Start, obwohl wir ja den Baum, den wir – eine dringende Empfehlung Frau Hoppes bei der vortägigen Sitzung bei Behandlung nach kinesiologischer und familienaufstellungstechnischer Methode – zu Mitternacht gemeinsam sehr inniglich und lange umarmt hatten, partout nicht wiederfinden wollten. Wohl eine halbe Stunde irrten wir dort im Volkspark Friedrichshain umher, bis wir ihn doch noch fanden, eine Eiche – einen Zweig nahm ich mir gleich mit nach Hause.

Dort wieder angelangt, zogen wir zum Frühstück aus, in die „Bekarei“, diese ja sehr lustige portugiesische Lokalität mit ihren nussigen und eiigen Gebäcken. Mittags also entschieden, doch noch ein Dutzend zu einem Picknick in den Park am Weinbergplatz einzuladen. Aber dann …

Kitty ihrerseits ging backen, denn mein Wunsch, die Fassbinder-Ausstellung aufzusuchen, war nun allzuweit von ihren Interessen entfernt. Also allein zum Gropius-Bau. Geradezu hindurchgerannt, denn nur eine Stunde war Zeit, um anschließend zu einer Lesung zu kommen. Im Schnelldurchlauf war klar: Vieles interessiert mich nicht, schon gar nicht die Fassbinder-Impulse im Werk der Nachgeborenen. Aber die Manuskriptseiten von eigener Hand, die Tonbandprotokolle für „Berlin Alexanderplatz“ (78 Stunden am Stück eingesprochen!), die Monitorwand mit dem früh gealterten – ja eher unappetitlichen Rossbärtigen -, dazu die frühen Bewerbungsschreiben beim dffb, seine Lederjacke, sein Breitner-Trikot, die Set-Fotos, all das warf mich doch sehr zurück in die längst verblichen geglaubte Faszination für diesen Energiemenschen, diesen unbedingten Mann.

Dann aber los zur Lesung des Herrn Jang, eines Nordkoreaners, der einstmals Hofpoet und wichtiger Mann im Propagandaministerium des Geliebten Führers war, bis er immer näher an diesen Geliebten Führer kam, sogar mit ihm die Gläser klingen ließ und dabei aber merkte, dass zwischen hochtoupierter Frisur und Plateausohlen ein sehr kleiner, ein sehr flacher Mensch übrig blieb, der Subjekt mit Prädikat verwechselte und gar nicht so charismatisch war, wie es die Doktrin vorschrieb. Da floh Herr Jang über einen Fluss und sah, dass in Südkorea die Vögel freier zwitscherten und der Himmel blauer war. Ob er, aus Nordkoreas Sicht ein Verräter, denn nun in Gefahr sei, wollte ich wissen. Er habe durch Südkorea Personenschutz, ließ mich Herr Jang wissen.

Fraglich, ob es gut ist, in ein Land zu reisen, dessen emotionale Kraft und Psyche darauf geeicht ist, entweder zu bewundern (den Geliebten Führer) oder zu hassen (den westlichen Gast). Wie soll da Begegnung funktionieren, nur weil man selbst die Ideologie außen vor lässt?

Dann also in den Park, bestückt mit vier Flaschen Sekt. Dort zunächst allein. Mit Rainer telefoniert, dessen Gratulation nach einigen Informationen über die letzten Ereignisse eher zu einer Kondolation wurde. Etwas traurig in den Himmel geschaut. Dann Ablenkung: Jascha und Luis waren schon da. Dazu kam Lucile. Später Klemens. Sektlaune. Sehr aufgeräumt. Ich als Zeitzeuge, der Fahrt aufnahm, um über Fassbinder und Schlingensief auszukünftlen. Was da alles hoch kam! Meine Zeiten mit Schlingensief, diesem Menschen zwischen Genie, Herz, Provokation. Sekt regt ja entschieden an. Regen schien zu kommen, kam aber nicht. Nur einige Tropfen. Man holte Döner. Man aß und spaßte sehr unverdrossen in die Dunkelheit hinein. Und dort, im Dunkel, bewegte sich ein Kerzenschein. Mein Verdacht – Das musste Kitty sein – erwies sich als richtig. Flankiert von Diesem und Jenem bahnte sie sich ihren Weg durch den Park, hin zu uns, zu mir, mit einer entzückenden Mandarinentorte, verziert mit Grün und Fußballtoren und Fußballspielern. Dazu ein Plakat mit ihrem legendären Hintern. Dazu einen silbrigen Abguss ihrer Büste! Wie nett das alles war, bis wir uns sehr glücklich gegen Mitternacht voneinander, und Kitty & ich gingen nach Hause, schliefen bald.

Einziger Nachteil: Irgendwann meldete sich unten rechts ein Zahnweh. Dort, wo er sich die ganze Zeit, als der Termin bevorstand, nicht gemeldet hatte. Jetzt ist der Termin verstrichen, und der Zahnweh ist wieder da. Hält sich zudem irgendwie bis zum Zeitpunkt der Niederschrift (30.5.2015, 20 Uhr), und das ist nun ein wirklich unfassbarer psychosomatischer Unfug. Aber sei’s drum.

12. Juli 2016 11:40