Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (103)

25. November 2015, ein Mittwoch

Gestern noch erreichte die Gruppenmitglieder der Genossenschaft die rätselhaft-unrätselhafte Nachricht, man würde sich gern auf einen Glühwein treffen, bei dem Gerald eine Runde auszugeben habe – „aus einem guten Grund“. Hat mein schäbiger Hauptmieter sich nun doch entschlossen, mir das Feld zu räumen? Das wäre eine gute Nachricht: die Aussicht auf eine Wohnung in einer Genossenschaft mit Aussichten auf Dauer, Mietpreis, Zugriff auf vielleicht andere Wohnungen etc.; andererseits auf neuerliche Nachbarschaft mit „diesen Leuten“, von denen ich so erleichert schied. Das nicht vergessen und verhehlen! Proust in einem Klammerzusatz: „Denn nicht nur dadurch, dass man andere, sondern, dass man sich selbst belügt, verliert man schließlich das Gefühl dafür, wann man eigentlich lügt.“

Terminabsprachen zum Geschwistertreffen. Sie verlaufen zäh. Im Computer abgelagert sind Kindheitsfotos selbstverständlicher Geschwisterschaft. Damals war klar, dass das ewig dauern würde, aber ungleich länger dauert inzwischen jene Zeitspanne, in der wir nur noch einander zuwinken, jeder mühsam sein Gleichgewicht haltend auf auseinandertreibenden Schollen.

Flug nach Lima gebucht: zum Wandern in Anden. Lange genug habe ich Signale in die Umwelt abgesetzt, um den Druck zu schaffen, unter dem eine ungefähre Idee eine konkrete Form annimmt. Das 30. Jahr mit etwas Verspätung. Wer ist mein Moll?

Beim Bäcker gesessen und gelesen. Neben mir: ein stinkender Mann. Wahrscheinlich ohne Kindheit.

25. November 2016 15:25