Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (106)

30. November 2015, ein Montag

Eigentlich ist noch Sonntag, es ist kurz nach Mitternacht, nun ja, 00:45 Uhr, und ich komme aus dem Adventswochenende im norddeutschen Elternhaus. Es ist offenkundig, dass die Familie kein Zufluchtsort mehr ist. Mich ereilen dort mehr Panikattacken als anderswo. Fragt mich die Schwester, was ich derzeit arbeite (mit Betonung auf „arbeite“), flüchte ich schwitzend ins Wohnzimmer mit der für alle erkennbaren Ausrede, dort die Digitalisierung der Märchenplatten besorgen zu müssen. Vom Prinzregenten bin ich zum Patienten geworden, behütet von Mitleid und anderen Formen der Herablassung, und so ist die Familie ein Kampfgebiet geworden, in dem jedes Mal unter Aufbietung aller Kräfte und Duldung neuer Verluste ein Waffenstillstand verteidigt werden muss.

In diesem Alter noch Aufwallungen gegen den Vater, wer hätte das gedacht? Widerstände gegen Rechthaberei, Herausrederei, Angeberei … und wahrscheinlich deshalb, weil ich diese Tendenzen an mir selbst sehe. Könnte sie ihm als Gen-Erbe anlasten, gäb’s dafür nicht eine Ohrfeige der Existenzialisten. Tröstlich wiederum: Während wir drei Geschwister doch einige Neurosen aufzuweisen haben, ist die nachfolgende Generation erstaunlich cool und chillig geraten.

Kein Wunder, dass ich in die Anden reise. Ein neuer Fluchtpunkt desjenigen, der den Statthaltern der widrigen Zufluchtsstätte demonstriert, dass er gar nicht weit genug, hoch genug, riskant genug reisen kann, um seine Zuflucht in der Flucht zu suchen.

Zeitig zurück nach Berlin, um es in den kolumbianischen Film Embrace of the Serpent zu schaffen: über zwei Forscher im Amazonas-Urwald. Deutlich beeinflusst von Werner Herzog. Schönes Schwarzweiß. In den Passagen satirischer Darstellung christlicher Kolonisierung unangenehm theatralisch. Aber schön in den Bildern, in denen die Natur übermannt und die Regie übernimmt über das Geschehen (blöder Ausdruck). Ich schlief zwischendurch, vielleicht sickerten die Bilder durch die schläfrigen Lider noch besser ein. Zumindest fuhr ich heim mit dem mulmigen Gefühl, demnächst selbst in diese grünen Raubtierhölle, diesen menschenwehrenden Wahnsinn zu reisen.

30. November 2016 13:00