Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (121)

31. Dezember 2015, ein Donnerstag

Gestern dokusan beim Sensei: Wie sich der Aikido-Geist in den Alltag übersetzen lasse und wie sich dieser Vorgang bei ihm vollzogen hätte: auch bei ihm in Stufen; in Stufen des Sich-Spürens; nicht als linearer Vorgang, sondern in kleinen aber spürbaren Momenten, in denen ihm deutlich wurde, dass er sich spüre. Zu meinem Aikido: raus aus dem Arm, hinein in die Hand. 287 Aikido-Trainingseinheiten im Jahr, also 5,5 Einheiten pro Woche. Und gleichzeitig spürte ich jetzt beim Winter-Lehrgang ein krisenähnliches Phänomen, eine mentale Erschlaffung, eine etwas sieche Neugier, die derzeit nicht erfasst ist vom Reiz der Prüfungen, der Techniken, des Austobens. Sensei hat mich am ersten Lehrgangs-Tag einmal nach vorn geholt, die harte Schulter angemahnt und an den folgenden Tagen nicht wieder nach vorn zitiert.

Nachmittags zum Kaffee bei der Nachbarin G., die ich in ihrer rustikalen Ostberliner Art sehr mag. Sie berichtet Erstaunliches: Geister frisch Verstorbener sitzen beizeiten auf ihren Balken und streuen Blüten; ein andermal laufen leere Schuhe durch ihr Wohnzimmer. Dann, beim astrologischen Gutachten, das ich gefasst hinzunehmen mir vorgenommen hatte, wurde sie sehr ernst: oh, zweimal Uranus … sie lenkte das Gespräch dann aber versöhnlich zu weniger Fatalem und fragte, ob mich meine Reiselust auch nach Indien zöge, wo es ja Leute gäbe, die über uns Erdenmenschen zusammengerollte Blätter liegen haben, in denen alles über unser Leben verzeichnet sei, weil wir ja alle mit Aufgaben versorgt seien. Ja, alles sei dort verzeichnet, eben der ganze Lebenslauf, auch das Sterbedatum. Sie gab mir zwei Berliner mit.

31. Dezember 2016 19:05