Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (160)

6. März 2016, ein Sonntag

Die Barke durch die Riffe lotsen / die Ungeheuer mit Namen zu bannen …

… besuchten mich die Schwestern zum Geschwistertreffen: eine Familienaufstellung. Erst zusammen in Giselle und seine weltfremde Ballettakrobatik. Eine Ouvertüre für unseren pas de trois. In Potsdam sitzen wir am Samstag lange im „Drachencafé“. Wir reden über Andere, um verhohlen über uns zu reden. Wir tasten uns an uns heran. An unser Grauen. Meine Blicke grapschen einer Schwester heimlich ans Kinn. Dort hat sich erstmals ein Hautsack ausgestülpt. Sie versucht ihn zu kaschieren. Als sie vor meinem Computer sitzt, bricht erstmals seit dessen Anschaffung das Bildvorschau-Programm zusammen; als sie mein Auto steuert, funktioniert erstmals seit dessen Anschaffung die digitale Zahlenanzeige. Ob die Schwester ein spezielles elektromagnetisches Feld habe? Sie sei sich dessen sicher, sagt sie, und wir …

… lotsen die Barke durch Riffe / die Ungeheuer mit Namen zu bannen …

… besuchte ich am Abend mit Freund K. Wagners Rienzi. Philip Stölzl hat Regie geführt und Rienzi als Hitler-Mussolini-Groteske inszeniert, was sehr naheliegt, weil Rienzi für Hitler 1907 eine so wichtige Oper war. Ohne Rienzi kein Hitler. Ungeheuer, wie sehr mich diese Ästhetik in ihren Bann zieht. Allein die Tragik des todesnahen und schon verdammten Rienzi, der kindhaft-irre mit seinen Modellbauten spielt, ist für mich entzückend-liebreizend. Was waren das für verquere 1840er Jahre, in denen Giselle und Rienzi entstanden, diese mythensatten dunklen Stoffe für verzweifelte Idealisten und ihre vernebelte Todessehnsucht …

… und wir die Barke durch die Riffe lotsen / die Ungeheuer mit Namen zu bannen …

… besuchten die Schwestern und ich heute Morgen das Museum „Ministerium für Staatssicherheit“ in der Ruschestraße. Es gab sie also wirklich, die Aktenkoffer mit eingebauter Kalaschnikow! Und aufregend: einige Täter äußerten sich vor der Kamera ganz unbefangen über ihre Tätigkeit. Einer bekam richtig leuchtende Augen, als er vom „operativen Vorgehen“ sprach. Dazu rieb er mit dem Daumen seine Zeigefingerspitze – ein Mann mit Fingerspitzengefühl. Es sei da, geriet er ins Schwärmen, eine solche Abwechslung gewesen … tja, aber dann fehlten ihm doch die Worte, und so beließ er es beim: „Man muss dabei gewesen sein … es war faszinierend.“ Man muss dabei gewesen sein – der Mann hat Gespür für Pointen.

6. März 2017 09:18