Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (169)

26. März 2016, ein Oster-Sonnabend

Mein schwerer herzlicher Freund, dem in Kindertagen nicht anzusehen war, dass er nicht nur geistig Luthers Format zum Vorbild nehmen würde, sitzt nach zwei berliner Nächten wieder im Zug, und nun ostert die Sonne wie wild. Man hat von einer Minute auf die andere falsche Klamotten an. Morgens noch gefröstelt, ein halbhartes Ei später weiß man nicht, wohin mit Pulli und Mantel.

Wir besuchten die Matthäuspassion in der Philharmonie. Litten schadenfroh, als der Tenor seine Rezitative schief in die Ränge säbelte. Dazu eine Gambe, die sich binnen von fünf Takten verstimmte. Die Gambistin errötete – sehr schön. Dann heiteres Disputieren mit dem pastoralen Prachtfreund: Die neuere protestantische Theologie scheint sehr beflissen darin zu sein nachzuweisen, dass die Schuld an Jesu Hinrichtung nicht, wie es das Matthäusevangelium nassforsch einherbrüllt, die jüdischen Hohepriester trifft, sondern die – im selben Evangelium aus der Schusslinie gerückte – römische Justiz. Auffällig deshalb, weil die theologische Bibelforschung erstens) es sonst mit der historischen Akkuratesse gern weidlich ungenau nimmt und jeden historischen Einwand mit dem Hinweis auf den „wahren Kern“ vom Altar wischt; und weil sie zweitens) offenbar ein erhöhtes Interesse hegt, jedem Antisemitismus-Vorwurf zuvorzukommen. Welche rhetorische Finessen würde sie treiben, wenn die Nazis römische Justiziare verfolgt hätten? Im Grunde fein, an so einem Tag im bequemer Geselligkeit mit dem pastoralen Freund im Trüben der Religion zu fischen.

Schreck zur Nachtstunde: beim Zähneputzen einem alten verwitterten Mann mit Kapuze begegnet – im Spiegel.

24. März 2017 13:51