Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (22/23/24)

7. Juli 2015, ein Dienstag

Verstohlen klicke ich auf facebook, um zu sehen, ob Kitty etwas schreibt. Ich Idiot. Vielleicht noch idiotischer: Nach dem Sterbe-Kapitel im „Tibetanischen Buch vom Leben und Sterben“, in dem die „bedingungslose Liebe“ eingefordert wird, schreibe ich Kitty eine sms so ganz im Stil des „Loslassen-Könnens“ mit allen beschämenden Nebeneffekten verhohlener Hoffnung. Völlig heillos.

8. Juli, ein Mittwoch

Auf Seite 634 des Prometheus-Buches über die Entwicklung der Menschheit wird mir erstmals klar, dass das Wort „protourban“ nichts mit Turban zu tun hat, sondern mit proto-urban. Oh Mann!

Um 14:30 Uhr Zahnarzttermin anlässlich der Vorbereitung einer Krone. Eine Stunde im Stuhl. Schöne Spritzen heutzutage: mit kleinen zielgenauen Stichen wird das aktuelle Umfeld betäubt, ohne dass man sich hinterher dauernd auf die Lippe beißt und sabbert, ohne es zu merken. Zahnarzt Schneider schrubbt aber doch recht schmerzhaft, denn es sei Karies vorhanden, der, sagt er, seine Gifte manchmal sehr dauerhaft in den Nerv entsende, selbst wenn der Karies selbst schon nicht mehr da sei. In einem solchen Fall stünde eine Wurzelbehandlung an, die Chance stünde 70:30 (wirklich so herum? Ich hätte nachfragen sollen), aber wir sollten guter Dinge sein, dass es dazu nicht kommen müsse. Das wird sich in den nächsten Tagen zeigen. (Gerade jetzt ziept es wieder!)

Nachricht von Kitty, gegen 16 Uhr: „Wir können ja Freunde bleiben, wenn du willst“ Auch das noch!

Nach Aikido in die Mieterversammlung. Und tatsächlich kommt es wie geahnt: Der Vorstand bietet mir eine 40-qm-Whg im Erdgeschoss an, die ich ablehne. Er bietet eine 48 qm-Whg in der Immanuel-Kirch-Str. an, worauf ich einwende, dass ich, wie gesagt, bislang in meiner 65-qm-Wohnung lebe und arbeite, und schwerlich den ganzen Kram in 48 qm unterbringen könne. Daraufhin wird umgehend meine Position als Untermieter und insofern gar nicht Berechtigter irgendeiner Umsetzwohnung ins Feld geführt. Diese Wendung hielte ich, sage ich, für schäbig, worauf der Vorstand darauf hinweist, dass die Genossenschaft zwar alles dafür täte, um mir Wohnen zu ermöglichen, ich aber auch meinen Beitrag dazu leisten müsse, zum Beispiel, indem ich mir bitte selbst eine Umsetzwohnung besorge. Die anderen Mietparteien, ihrerseits glücklich versorgt mit Umsetzwohnungen, verstehen den Vorstand.

In solchen Konfliktphasen stresse ich. Künftig wird alles vermutlich schwieriger, denn der Vorstand beteuert zwar auf Nachfrage, er würde mich bei der Wohnungsvergabe nicht auf eine schwarze Liste setzen, aber bei dem Gesicht, das er dazu machte, ist das nicht sehr glaubhaft. Ich schreibe einen offenen Brief, um meine Argumente besser zu ordnen. Geht trotzdem wahrscheinlich nach hinten los.

9. Juli, ein Donnerstag

Eine kurze Nacht zwischen 1 und 6 Uhr. Aber recht schön verregnet. Nur prasseln beim Einschlafen und Aufwachen auch die Gedanken an die ganze Malaise auf mich ein.

Auf meinen offenen Brief kamen postwendend Antworten, rabiate Schützenhilfe mit gebleckten Zähnen für den Vorstand von Seiten jener Nachbarn, bei denen ich noch im Frühjahr Feuer löschte. Herzhafter Tipp, doch bitte zu schweigen, „sonst würde ich mir selbst die Karten legen“ … Das war absehbar. Sie müssen verteidigen, was sie sich ergattert haben, da störe ich nur. Am besten wäre es wirklich, es täte sich woanders eine Wohnung auf. Allein das Maskeradenspiel des falschen Lächelns im Treppenhaus, huiii.

Ich verderb’s mir gerade mit Allen. Sie wollen mich aus dem Haus raus, im Dojo ist immer noch Stress, mit dem Arbeitgeber geht es vor’s Gericht und meiner Familie bin ich peinlich. Super-Phase.

Aber: Ich habe im behandelten Zahn wirklich keine Schmerzen. Dieses Aber ist kein kleines Aber.

30. Juli 2016 20:21