Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (25/26)

10. Juli 2015, ein Freitag

Vatis Familienchronik zum 952. mal korrekturgelesen, diesmal nur noch auf Rechtschreib-Fehler, nachdem wir inhaltlich ja irgendwann an einen toten Punkt gerieten. Er nimmt lediglich meine Kritik zur Kenntnis, dass er bzgl. der NS-Vergangenheit seines Vaters eine fragwürdige Entschuldigungsstrategie betreibt. Immerhin schön, dass wir darüber den Dialog aufrechthielten.

12. Juli, ein Sonntag

Gestern das Aikido vorverlegt, dann schnell nach Weddelbrook zum Firmenjubiläum von Schwager W. bzw. zum Familientreffen und im Anschluss zu Mutti und Vati nach G. Die ganze Zeit innere Beklommenheit. Ich bin der steinerne Gast, der tote Gast, der abwehrend auf Fragen nach seinem Befinden reagiert. Der herzlich willkommen ist, aber mit dem niemand etwas rechtes anzufangen weiß, weil er nicht richtig dazugehört. Jeder weiß oder ahnt: keine Partnerschaft, kein Job, gefährdete Wohnung, keine Perspektive. Ein zerstobener Traum von eigener Familie und eigenen Kindern, eine in Stücke gerissene und zerfetzte Zukunft. So jemand ist sozial kaum noch unter den Lebenden. So jemand ist da, obwohl er nicht da sein sollte.

So jemand geht mit seinen Eltern am Kanal entlang und spielt mit ihnen Canasta (und verliert). So jemand fährt im Auto zurück nach Berlin und würde gern weinen, kann es aber nicht. Und er denkt die ganze Zeit an eine Niederlage nach der anderen. So jemand denkt an K. und wie er sein Liebesreservoir ausschöpfte, an A. und ihren Erdgeruch. Und an Meg und an Kitty. Und er denkt an Revanchen bei jenen, die ihm schaden. Und denkt daran, dass das Darandenken schädlich ist und ihn kaputt machen wird, aber die Gedanken prasseln stärker als der Regen, und das Hirn hat keinen Scheibenwischer.

31. Juli 2016 20:07