Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (30/31)

16. Juli 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich inzwischen dieses Tagebuch liebe. Es protokolliert meinen Niedergang. Vielleicht heroisiert es ihn bzw. schreibt vor, was ich hier zu beschreiben glaube. Jeder richtet sich nach dem Wort, das er über sich abgibt.

Auffällig, wie selten es mir derzeit gelingt, die richtigen Worte zu finden. Sie schüren Unmut und verderben die Absicht. Heute, beim Bäcker, stellte eine Verkäuferin zwei Löffel in meinen Kaffee und rieb sich den Bauch, als ob er krampfe. So warm wie möglich sagte ich amüsiert: „Jetzt haben Sie mir sogar zwei Löffel in den Kaffee gestellt“, worauf die arme Frau eine Entschuldigung dahinstotterte, worauf ich wiederum in hocheilendster Beschwichtigung sorglich mich erkundigte: „Ist Ihnen nicht wohl?“ Sofort erstarb alle Unterhaltung in der Bäckerei, als wittere man den grämigen Kunden, der wegen eines überschüssigen Löffels persönlich beleidigt. Nun stammelte die Verkäuferin erst recht und alles war nur noch peinlich.

Nietzsche lässt Zarathustra predigen: „Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrtum vergolden.“ (S. 147)

Im Nebenan im Hause fächelt man gnadenreiche Güte über meine ungebilligten offenen Briefe: Es werde Zeit vergehen, man werde vergessen. Was sie keineswegs vergessen wird, wird sein, dass sie vergessen wollte. Sie wird im Gedächtnis verwahren, dass sie es war, die verzeiht.

17. Juli, ein Freitag

Um 8:15 beim Zahnarzt. Kronen-Einsatz, 2. Versuch. Empfang mit der Mitteilung, das Labor habe mit dem letzten Abdruck nicht arbeiten können. Daher werde nun ein neuer angefertigt. In einer Woche folgt der 3. Termin.

Beim Amt reiche ich Unterlagen auf Erteilung eines Künstler-Wohnberechtigungsscheins nach. Die Frau am Schalter ruft ihrer Kollegin vis-à-vis zu: „Künstler-WBS? Noch nie gehört! Du?!“ „Nee!“ Sie prüft die Unterlagen: Der zuständige Sachbearbeiter hatte, obwohl er das richtige Formular von mir ausgehändigt bekommen hat, das Falsche angekreuzt, nämlich: Antrag auf Wohngeld. Ich ahne Böses. Auch, weil ich irgendeinen Mietvertrag vorweisen muss, aber mein Hauptmieter sich drückt, mir den erbetenen Mietvertrag zu schicken. Leider. Da hätte ich in der Vergangenheit mehr hinterher sein müssen, statt naiv auf Vertrauen zu setzen.

Beim Aikido hat Gerd Sensei mich zum ersten Mal nach vorn geholt – es war keiner der Stamm-Ukes da, so dass die zweite Garde zum Zuge kam. Und sofort: Gerd karikiert Gerald als Stein. Dennoch genossen.

Sehr schön: Der Schatz der Sierra Madre (USA 1947) mit Humphrey Bogart als Bettler in Mexiko, den die Goldsuche zum gierigen Knilch verwandelt – eine unübliche Rolle, die Bogart mit Lust am Ekel füllt.

2. August 2016 11:25