Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (39/40/41)

25. Juli 2015, ein Sonnabend

Der schönste Tag der Woche: morgens freies Training. Viel ushiro-ryote-dori. Wenn keine Verletzungen auftreten, dürfte alles geschmeidig ablaufen bei der Prüfung.

Danach mit dem Fahrrad zum sogenannten Berliner Fotomarathon; mit dem Übertreten der Schwelle flutet mich das Gefühl, kaum eines der Fotos könne mich interessieren und ich sei lediglich dort, um ein selbstgestecktes kulturelles Wochen-Soll zu erfüllen. Speditives Checkern, frühe Flucht.

Wylers Sackgasse (USA 1939) – Humphrey Bogart vor seinem großen Ruhm. Anrührend: Er gibt dem Gangster Seele, und Wyler dreht ein wirkliches Sozialdrama mit einer Prise Gangstertum. Eine hübsche Entdeckung, auch wenn Gram und Grübeln nur für Momente verschwinden.

26. Juli, ein Sonntag

Das allsonntagliche Telefonat mit den Eltern. Vati kündigt an, er werde mir seine Familienchronik noch mal zur Durchsicht zusenden (wie oft denn noch?), aber es habe keine Eile, ich möge danach gehen, „wie es meine Geschäfte zulassen“. Innerlich sofort aufgebracht. Ich bin Wunde. Man hört: Schwester U. verzeichnet Arthrose-Befund in den Knien. Man weiß: Schwester S. mit rheumatischen Beschwerden. Man ahnt: marodes Erbmaterial, demnächst verschrottet durch die familiale Lust an Hoch-und Überdruck.

Tee-Treffen zur Dojo-Sache bzw. zu J. und seinen Entgleisungen: Ein Aikidoka-Zirkel findet sich ein im Garten des Sensei, debattiert mit dem Störenfried und über ihn. Auf dem Heimweg Unbehagen trotz Einsichten des Friedlosen über seinen Tunnelblick. Unbehagen über Debattierverhalten, über Diplomaten, die ihre Verständnissinnigkeit demonstrieren mit Einleitungssätzen wie „Mich hat sehr berührt, wie …“, was mich sehr unangenehm berührt. Aber letztlich: die Arbeit ist getan. Ab jetzt: Urlaub davon. Was J. damit anfängt, ist seine Sache.

27. Juli, ein Montag

Frühstück mit Verleger Z., „meinem“ Verleger (haha: ein Buch!). Der ist ja nun charmant und beredt und lustig gesegnet mit vielerlei Wissen und Interessen. Vielleicht aber werde ich langsam blöde. Ich vermisse eine gedankliche Schärfe bei mir, ein pointiertes Denken. Ich tappe recht oft im Nebel halber Gedanken und hoffe auf halber Strecke, irgendwo heil herauszukommen. Auch verhehle ich ihm gar nicht, dass im Augenblick nicht viel los ist mit mir. Das könnte man noch als Klarsichtigkeit verbuchen, bringt aber natürlich nicht viel.

6. August 2016 17:10