Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (42/43/44)

28. Juli 2015, ein Dienstag

Juckende Stellen schon seit Tagen. Wahrscheinlich Ungezieferbisse. Flöhe? Mein Bett ist ein sozialer Ort.

Heute abend kommen drei Aikidoka zum Essen, ich koche – wie fremd schon allein der Gedanke! – ein Drei-Gänge-Menü mit Tomatensuppe, Bratkartoffeln, Eis-Himbeer-Baiser. Dessert ist einfach. Schwieriger ist die Tomatensuppe. Schon das Wort „Dünsten“ muss ich googeln. Nicht eben haute cuisine, die Tomatensuppe in der Schüssel zu lagern, in der sonst der Putzlappen liegt …
… Nach Mitternacht: glücklich abgespeist. Durch den Schleier möglichst lässiger Geschäftigkeit sah ich die Ströme der Gespräche fließen und dachte: Ja, so muss Leben sein.

29. Juli, ein Mittwoch

Auf einem Bahnsteig telefoniert eine kleine junge Frau. Sie trägt Jogginghosen und sagt sehr energisch, sie sei „zunächst einmal sauer auf die … Jenny Fotzenschön …“

Vierter und bitte vorerst letzter Termin bei Heilpraktikerin H. (die sich selbst lieber als Seelenheilerin bezeichnen würde). Sie begegnet meiner Skepsis an der Methode mit Hinweis auf naturwissenschaftlich belegbare Erkenntnisse über morphogenetische Felder (ererbtes Wissen innerhalb genetisch verbundener Gemeinschaften) und verweist auf Rupert Sheldrake als wissenschaftliche Referenz. (Das recherchiere ich später und sehe: Laut Wikipedia sind Sheldrakes Hypothesen über das „Gedächtnis der Natur“ von der etablierten Wissenschaft als pseudowissenschaftlich abgelehnt worden; zu den wenigen Befürwortern zählt Bernd Hellinger, der die Familienaufstellung als psychotherapeutische Methode prägte und seinerseits umstritten ist.) Meine Einwände gegen die jüngste Auswahl der während unserer Behandlung heranzitierten Engel entkräftet Frau H. mit souveräner Leichtigkeit: Dies alles seien eigentlich lediglich Energiekörper, die ins Totenreich begleiten, je nach Kultur unterschiedlich ausgestaltet. Es hätte auch ein Bär oder ein halb-skelettiertes Wesen sein können, aber solche Wesen seien eben eher in anderen Kulturen tätig, hier nähme man Engel. Frau H. kann auch mit gänzlich nicht-scharlatanischer Nüchterneheit von ihrer Erleuchtung und ihren Erleuchtungsmomenten sprechen, inklusive ihrer großen Skepsis an den Mitteln der Sprache, die an solchen Bereichen (im Jenseitigen) nichts mehr greifen könne. Überdies gelte es auch in meinem Fall, das dauernde Festhalten und Kontrollieren aufzugeben. Es würden noch härtere Kämpfe auf mich zu kommen als bisher: eine noch ärgere Gegenwehr von Ego und Persönlichkeit. Da würde ich durch müssen.
Im nächsten, kinesiologischen Behandlungsschritt hält Frau H., wohl mit Rücksicht auf meine methodischen Zweifel, den „heiligen Raum“ sehr abstrakt: Er ist nicht bewohnt von Engeln, sondern von Lichtkörpern. Mir ist, als wäre der heilige Raum gerade saniert worden.

30. Juli, ein Donnerstag

Wie mich das drängt, diesen Tag nach dem H.-Tag Revue zu passieren. Morgens eine Mail vom Sensei, einsetzend mit „Lieber Gerald, ich liebe dich, danke für deine Mail“ – wann hat es so etwas schon gegeben? Dazu ein überaus milder Email-Verkehr mit Kitty, der dann einvernehmlich ermüdet und einschläft. Zur Eiche. Die war warm.

Lade J., den wilden Siegfried, zum Besuch des Jüdischen Museums und der Ausstellung „Gehorsam“ ein, siehe: Er willigt ein und hält es aus. Was für ein therapeutischer Tag. Welche Droge hat Frau H. da eingeträufelt? Und wann werden die Mühlsteine wieder ihr Mahlwerk aufnehmen?

7. August 2016 10:52