Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (45/46/47/48)

31. Juli 2015, ein Freitag

Jetzt, am Abend, lässt die Wirkung jener Tröpfchen nach, die mir auf der Zunge zergingen unter der heiligen Pipette von Frau H. und mich mit der Welt vereinten. Vielleicht diente auch Noah Baumbachs Gefühlt Mitte Zwanzig als Ausnüchterungszelle. Da lässt sich ein Paar von Mitte Vierzig auf ein junges Hipster-Paar ein und sieht sehr schnell sehr alt aus. Allerdings wirkt Er (Ben Stiller) vergleichsweise deutlich vitaler als ich: ein zwar gescheiterter Dokumentarfilmer, aber einer mit Ambitionen; ein zwar törichter Partner, aber einer mit Ehefrau (und zwar Naomi Watts); ein zwar verworrener Wohner, aber immerhin mit cooler Wohnung etc.

1. August, ein Sonnabend

Die Beschäftigung mit Vatis Familienchronik ist ein ewiges Stolpern. Mal überliest er meine Anmerkungen, dann missversteht er sie, dann misslingt das Versenden – ein ewiges Nachsetzen, Nachholen, Würgen, obwohl es im Grunde mein Wunsch ist, Vati im Produktivdasein zu begleiten. Wir schauen einander in die unendlich aufgefächerten Spiegel unserer Renitenzen und Erwartungen. Wenn er am Telefon fragt, was ich heute denn so machen würde, fühle ich mich sofort wie im Kreuzverhör.

2. August, ein Sonntag

Heute morgen sitzt beim Bäcker, wie jeden Morgen, der geistig etwas zurückgebliebene Mann mit dem vergreisten Kindsgesicht und plappert im Selbstgespräch. Es sind Wallungen. Mal kleinere und größere Blasen, die aus dem Morast unhörbaren Selbstgesprächs an die Oberfläche steigen. Er ist die Kehrseite all jener Leute, die über unsichtbare Anstecker telefonieren und anmuten wie Gestörte im Selbstgespräch. Im Gegensatz zu ihnen wirkt der Mann beim Bäcker wie jemand, der telefoniert. Aber eigentlich macht er das ja auch in seinen im Kreisverkehr verlaufenden Ich-Dialogen.

3. August, ein Montag

Täglich spüre ich das rechte Knie und weiß doch, dass es noch einen Monat durchhalten muss. Ich bin ziemlich sicher, dass dort eine Art Splint lose ist, der im besten Fall verleimt werden müsste.

Das Soll von drei Kapiteln in Dickens‘ Bleak House erfüllt. Was normalerweise die Belohnung vom Tagewerk sein sollte, ist mangels Tagewerk selbst zum Tagewerk erhoben. Das ist mittags erledigt, genauso, wie das Mittagessen um 12:15 Uhr erledigt ist. Was ich mir täglich abverlange, ist lächerlich wenig. Als wäre ich mein eigener Psychotherapeut, der seinem Patienten nur das mindeste zutraut.

8. August 2016 09:27