Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (49/50)

4. August 2015, ein Dienstag

Ab morgen wird gefastet. Heilgefastet. Besorgung einer Unterkunft am ersten Tag der Wanderung, Schriftverkehr mit Genossenschaft, Ausfüllen der Krankenversicherungs-Anträge für den Wechsel in die Gesetzliche, Impfung (Zecken), und schon geht’s dahin.

Heute Abend wieder Mieterversammlung – die erste nach dem letzten Eklat …

5. August, ein Mittwoch

Die Mieterversammlung verlief glimpflich, zumal ich Frau H.s Rat befolgte, nicht die Laus im Pelz zu sein, sondern still den Dingen zu folgen. Es wird ziemlich resigniert geklungen haben, wie ich sagte, keine Einwände zu erheben. Dieses Resignative wird mir heute Morgen beim Frühstück sehr klar. Dabei dämmert die Vorstellung, mit so einer Resignation aus dem Leben zu scheiden, wenn die Hoffnungen aufgebraucht sind. Also auf eine Weise, dass die Umgebung mit der Schulter zuckt. Die Vorstellung, in dieser Verfassung über den fünfzigsten Geburtstag zu kriechen und mich mit irgendwelchen Fernreisen von einer Lebenswürdigkeit zu überzeugen, lässt draußen am Tisch beim Bäcker meine Augen feucht werden. Ich merke, wie sich der Gedanke einkrallt, dass es eine Option ist, aus dem Leben zu scheiden, und möglicherweise bezeichnet genau dieser Gedanke die Schwelle zur Krankheit und Krisis und das, was Frau H. mir für meine Zukunft prophezeite.

Bei Kafka wird es nachzulesen sein: dass die Macht des Opfers darin besteht, seine erlittenen Verletzungen zur Schau zu stellen und die Täter damit an ihre Taten zu erinnern. Und außerdem, dass diese Macht nur eingebildet ist und in der Fantasie des Opfers besteht, da die Täter tausend Strategien und Schlichen ersonnen haben, dieser Attacke auszuweichen. Haben die geschundenen Freaks auf Jahrmärkten jemals das Publikum zur Einkehr gebracht? Nein, sie haben gejohlt und gezahlt und damit ihr Recht auf Hohn und Verachtung erkaufen können. Und Schweinsteiger hat im WM-Finale seine Wunde nur deshalb so glorreich-heroisch präsentieren können, weil sein Täter in der Minderheit war und Schweinsteiger – als Sieger des Titels – im Gewand des Opfers der eigentliche Täter blieb.

Es bleibt erbärmlich zu glauben, jemanden damit beeindrucken zu können, indem man ihm sein „Das habt ihr aus mir gemacht“-Antlitz zeigt. Der Andere hat damit nichts zu tun. Er wird – mit Recht – entgegnen: Das hast du aus dir gemacht. Wie wirke ich auf Andere mit meinen Minirebellionsanflügen: wie all die Spinner, die ihre Frust-Weltsichten in die Gegend motzen und den Zeitungslesern der Bäckerei auf den Wecker fallen.

Dies ist der erste von vier Fasten-Tagen. Das Fasten lässt sich seltsam an: die mit Glauber-Salz angetriebene Entleerung erfolgt nicht, obwohl ich mittags eine Zusatzportion in mich hineinschütte. Erst gegen 18 Uhr entfaltet das Abführmittel seine Wirkung, dann allerdings mit Macht, leider gerade zum Zeitpunkt, als ich zum Aikido-Training will und als lauter Nachbarn im Treppenhaus herumgeistern. Das Klo auf halber Treppe ist in solchen Phasen sehr weit weg.

9. August 2016 10:57