Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (84)

15. Oktober 2015, ein Donnerstag

Meine Psychosomatik wird ja immer empfindlicher. Kaum steht etwas bevor, geht es mir schlechter denn je. (So lässt sich die Bewältigung des Bevorstehenden sehr viel glaubwürdiger glorifizieren.) Gestern, als ich mich nach Brandenburg aufmachte, um meinen Film auf der Archäomediale vorzustellen, begann schon beim Einsteigen ins Auto ein Ohrenreißen. Ich dachte erst, das sei Duschwasserrest, aber es wurde immer schlimmer. Dazu die Erkältung. Was für Schweißarten da zusammensickern. Gleich doch mal eine Propanolol einwerfen. Das reguliert denn doch enorm. Nur kann ich meine Außenwirkung dann nicht mehr gut einschätzen. Bei der Fragerunde hinterher stellt niemand eine Frage außer dem alten Film-Haudegen D., dessen langes Nuscheln in die spannende Frage nach dem Anlass des Films mündet. „Nein, kein Anlass“, kopfschüttle ich sediert und registriere dann aber doch die Außenwirkung einer so unhöflichen Antwort.

Dieser D.! Einer, der sich wirklich mit allen Hochetagen der Akademie und Politik anlegt und es sich mit ihnen verscherzt. Aber auch einer, der es schafft, für ein Festival ein Grußwort zu schreiben, in dem er nur für seinen eigenen Film wirbt. 76! Und erzählt mir mit seinen 76 Jahren von seinen zehn Tagen im Keller dort bei Brandenburg, in den ersten Mai-Tagen 1945. Ein seltsamer Mann: großes Herz, alte Schule, tollkühn und tolldreist.

Trotzdem miserable Nacht im Hotel. Zwischen halbdrei und vier Uhr wach gelegen und im Fernsehen Dokus über den Allgäu und die asiatischen Hochgebirge gesehen. Die Putzluft verbot, das Fenster zu schließen. Der Verkehr verbot, das Fenster offen zu lassen. Dazu diese Rotzbeutel in den Naseninnenhöhlen, die immer zu jener Seite schwappen, auf der ich liege. Grässlich. Morgens Frühstück. Da ist man ja leider nie allein, sondern sofort mit den Anderen vom Festival zusammen. 10:15 Uhr zuhause.

Auf mp3 gehört: Hubert Fichte. Auch so einer. Schaurige Stimme mit seiner Hamburger Plättung. Aber dann ein Satz wie „Mach doch mal das Licht an, das iss so dämmsig!“ Außerdem ein Vorbild in Sachen Reisebeschreibung, Angstbeschreibung, Magiebeschreibung – manischer, konsequenter, abenteuerlicher, sammelwütiger, als ich es je sein könnte.

Den ganzen Tag gepackt, geschraubt, demontiert. So weit gut vorbereitet für den Umzug. Fast schon beruhigend, dass jetzt, am Abend, die Stimme ziemlich weg ist und auch das Ohr sich zuweilen meldet – nicht alle körperlichen Symptome kündigen von Lampenfieber vor sozialen Auftritten.

Und gleichzeitig natürlich zum Kotzen: Nur weil die Genossenschaft fahrlässig (wenn nicht schlimmer) geschlampt hat, ging der Umzug nicht vor zwei Wochen bei herrlichem Sonnenschein und bester Gesundheit zügig über die Bühne, sondern jetzt, bei Dauerregen, Kälte und Erkältung. Wer besorgt mir einen tüchtigen amerikanischen Anwalt?

15. Oktober 2016 12:36