Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (90)

5. November 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich sie doch mag, diese neue Wohnung mit ihren Seltsamkeiten. Im Bad ein Waschbeckchen, das eigentlich zu einer Puppenstube gehört; hingegen ein Balkon von kapitalen Maßen. Dazu eine perfekte Aussicht vom Schreibtisch: direkt durch zwei eingelassene Türfenster in die wohnliche Küche mit Truffaut in Goldrahmen.

Neu und anders als im Prenzlauer Berg, nämlich ungewöhnlich berlinerisch, lebt es sich in Weissensee am Weissensee. Man trifft hier zum Beispiel auf die unfreundlichsten Fleischfachverkäuferinnen der Welt. Sie haben Format. Was Fleischnichtesser da versäumen! Gleich daneben lokalisieren „Woolworth“, „Ein-Euro-Shop“ und „McGeiz“. Kürzlich erstand ich dort einen Eiskratzer mit vorzüglich gummiertem Griff für 10 Cent. Hingegen rar sind Hutgeschäfte.

Weissensee ist nicht ganz ungefährlich. In der Mitte der hauptsträßlichen Berliner Allee verläuft der Schienenstrang der Tram. Wer glaubt, schnell die Straßenseite wechseln und auf die Ampel verzichten zu können, unterschätzt, wie rege, rasant und rabiat Autos und Schienenfahrzeuge verkehren und wie eng der  Zwischenraum zwischen Straße und Schiene ist. Schnell ist man eingekeilt zwischen Tram und Laster. Dann wird’s eng, gebremst wird nicht. Weissenseer mit Lebenswille verzichten daher oft ein Leben lang auf das Wechseln der Straßenseite. Man lebt hüben oder drüben. Der Bau der Schiene hat manche Familie zerrissen. Manchmal winkt man einander zu. Man tauscht Grüße. Es gibt ja auch Briefverkehr. Die Wirtschaft hat sich entsprechend eingerichtet. Geschäfte ähnlichen Sortiments sind spiegelbildlich angeordnet: zwei Apotheken, zwei Nagelstudios, zwei Friseure. Sogar Polstermöbelläden sind doppelt vorhanden. Zunächst hielt ich es für Konkurrenzdenken, doch die Duplizität entspringt stadtplanerischer Vor- und Umsicht. Indes scheint es nicht immer geholfen zu haben, manche Weissenseer scheinen die Teilung noch immer nicht begreifen zu können oder zu wollen. Konjunktur haben Bestattungsinstitute. Seit 1887 floriert das Bestattungsinstitut Kadach, und gleich nebenan – nein, nicht gegenüber, sondern auf dergleichen Straßenseite – wirbt Konkurrenz mit farbenfrohen Schaufenstern.

5. November 2016 09:35