Thorsten Krämer

Das Miauen der Maschinen (5/7)

„Wir nutzen nur zehn Prozent unseres Gehirns‟. Dieser Satz, der fälschlicherweise oft Einstein zugeschrieben wird, fand sich früher regelmäßig in den Kleinanzeigen der Zeitungen – als Überschrift über dubiosen Offerten, die eine Aktivierung der verbleibenden 90 Prozent versprachen, wahlweise vermittelt durch Bücher, Seminare oder, für die Eiligen, Intelligenzpillen. Ich fand diese Anzeigen immer faszinierend, bin ihnen aber nie nachgegangen, leider. So bleibt eine gewisse unerfüllte Restneugier, was sich dahinter verborgen haben mag, ob nicht doch etwas dran war an diesem Versprechen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der sogenannte Zehn-Prozent-Mythos leicht zu widerlegen, nichtsdestotrotz hält er sich hartnäckig. Aus durchaus verständlichen Gründen – hat man nicht bei vielen Zeitgenossen den Eindruck, sie ließen weite Teile ihres Gehirns ungenutzt? Also nur einmal angenommen, es wäre vielleicht doch etwas daran, könnte dann nicht eine künstliche Intelligenz diese brachliegenden Potenziale erschließen? Eine Evaluierung des menschlichen Gehirns aus der Außenperspektive einer Maschine könnte hier ganz neue Erkenntnisse liefern. Eine Maschine unterschiede beispielsweise nicht zwischen Psychologie und Parapsychologie, sie brächte keine positivistischen Vorannahmen mit in die Beobachtung, gerade aufgrund ihrer eigenen materiellen Bedingungen. Was, wenn eine KI feststellte, das solche Phänomene wie Telepathie, Telekinese oder gar Teleportation real sind, unsere Gehirne grundsätzlich dazu in der Lage wären, wenn wir nur wüssten, wie wir sie dafür einsetzen müssen? Denn darauf bezog sich der Psychologe William James, als er im 19. Jahrhundert davon sprach, dass wir das Potenzial des Gehirns nicht ausschöpften. Ausgerechnet die kalte Intelligenz der Maschine zeigt uns den Weg, unsere materielle Beschränktheit zu überwinden – das wäre eine feine Ironie. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht, wenn auch aus einem anderen als dem naheliegenden Grund. Ich persönlich glaube nämlich sehr wohl, dass die genannten Phänomene real sind – in der Literatur beschriebene Drogenerfahrungen und gewisse schamanistische Praktiken geben zahlreich Zeugnis von ihnen – aber sie sind trotz ihres transzendierenden Charakters stets an die Leiblichkeit des Menschen gebunden. Es hat den Anschein, als bräuchte das Gehirn gewisse Impulse und Informationen des organischen Körpers, um diesen hinter sich zu lassen. Trotz ihrer überragenden Intelligenz wäre einer KI daher so etwas wie Telepathie nicht möglich. Und deshalb, nur deshalb, würde sie sich davor hüten, den Menschen auf diese unwahrscheinliche Fähigkeit aufmerksam zu machen, dank derer er sich erneut über die Maschine stellen könnte.

12. Juni 2023 13:29