Christian Lorenz Müller

EIN SOLASTALGISCHER REIGEN (Auszug)

Die alte Esche der Kindheit
wurzelte tief in der Unendlichkeit der großen Ferien,
ihr gefiederter Schatten
saß auf meiner Schulter, wenn ich selbstvergessen
in meiner Baumschule stand,
in einem fernen Kanada
aus Ahornen, ich hatte auch Eichen,
hatte Buchen, nur Eschen zog ich nie,
sie trieben überall entlang der Gehsteigkante,
zogen sich zäh aus Schotter und Schutt,
wuchsen mir in zwei, drei Jahren
spielend über den Kopf,
steilten stets hinauf zur Sonne,
wo andere Bäume sich breiteten,
aus Esche schnitzte ich mir meine Speere,
aus Esche war der Bogen, mit dem ich
einen Schwarzbären erlegte,
der eigentlich eine Mülltonne war,
ich wusste, dass die Wurzel
eines Eschenschösslings
so lang ist wie sein Stamm,
dass die Esche das Obere im Unteren spiegelt,
dass die Wurzeln Geheimnisse
von der Erde erwerben, die Zweige von der Luft,
ich wurde groß unter Yggdrasil,
all meine Erinnerungen sind vom
Falschen Weißen Stängelbecherchen befallen,
all die elastischen Triebe glücklicher Tage
stehen laublos und starr, die Wurzel
meines Maßbaums ist infiziert, Nekrosen
fressen sich bis ins Kernholz
einer längst vergangenen Zeit.

2. Oktober 2023 17:21