Gerald Koll

Eine Begegnung

Gestern sprach mich, als ich, vom Bäcker kommend, eben die Haustür aufstemmen wollte, ein alter Mann an, der sich seines Aussehens wegen entschuldigte. Der Kollaps sei es gewesen, der ihm so zugesetzt und geradenach gerupft zurückgelassen habe. Ob noch eine alte Frau im Hause lebe, fragte er. Ich verneint. Alte Menschen sieht man nicht in diesen Straßen mehr. Schon gar nicht in der Sredzkistraße. Sie ist nicht nur gentrifiziert und besenrein von Sozialmüll, der das schmucke Bild des Prenzlauer Bergs beschmutzt, sondern auch bereinigt von oberen Platten der Alterspyramide. Der gerupfte Mann war eine Ausnahme. Er war zu Gast in dieser Gegend, doch er kannte sich aus.
Er wusste, dass die Sredzkistraße zu Zeiten der 50er und 40er noch nicht Sredzkistraße hieß und dass die Hausnummerierung anders erfolgte als heute. Er kannte die Geschäfte, und er freute sich, dass der alte Hülske immer noch Ecke Sredzki/Husemann Schuhreparaturen anbot, seit er, der Geselle, die Witwe des Meisters geehelicht hatte. Dem alten Hülske aber, gab ich zu Bedenken, gingen die Geschäfte schlecht. Jüngst gerade brachte ich zum Hülske Holzklotzen, nachdem ihn wochenlang eine an der Eingangstür hängende und handbeschriftete Wurstpappe als „erkrankt“ ausgewiesen hatte. Nun war Hülske gesundet und ich hoffte, er würde die Holzklotzenschäfte dehnen, die meinem Spann zu schaffen machten. Doch Hülske senkte die Mundwinkel: er würde beizeiten seinen Urlaub antreten und vorher nicht fertig. Gut, sagte ich, dann würde ich die Holzklotzen hinterher abholen. Hülske senkte die Mundwinkel abermals: Nicht gern habe er, wenn er im Urlaub sei, die Regale voller Schuhe. Gut, sagte ich, dann würde ich die Holzklotzen hinterher bringen. Hülske sagte: lieber nicht. Wenn er es recht bedenke, seien solche Klotzen schwer zu dehnen, da sei nicht viel zu machen. Hülskes Geschäftsaussichten, sagte ich dem gerupften Mann, seien wohl so rosig nicht. Schade sei das, sagte der gerupfte Mann.
Schade auch, dass keine alte Frau in diesem Haus mehr wohne. Es hätte die Witwe des alten Kurt Gäbler sein können. Denn hier in diesem Haus, unabhängig davon, wie die Straße heute hieße und die Nummer heute laute, habe er ja gewohnt, der alte Gäbler, der sogenannte Impresario, so genannt von seinen Kumpanen der Gladow-Bande, die in den späten 40er Jahren Berlin unsicher machten, immer zwischen den Sektoren hin und her, durch den Gleimtunnel hin und zurück, zu Villen in Dahlem und zurück, zu Juwelieren und zurück. Immer in Maßanzügen mit schicken Schlipsen. Vorbild: Al Capone. Bewaffnet. Sie schossen. Gäbler sei der zweite Mann gewesen, guter Autofahrer. Das Schwurgericht des Landgerichts Ost habe Gladow, der gerade 18 Jahre alt war, und Impresario Gäbler zum Tod verurteilt, habe ihn auch tatsächlich trotz ja junger Jahre in Frankfurt/Oder durch das Fallbeil hinrichten lassen, während Kurt Gäbler, der ja auch hätte durch das Fallbeil sterben sollen, dann doch lebenslänglich im Gefängnis gesessen habe, wobei dieses ‚lebenslänglich‘ tatsächlich lebenslänglich bedeutet habe – und zwar fünfzig Jahre. In welchem Stockwerk, fragte ich, Gäbler denn gewohnt habe. Das konnte der Mann nicht sagen, und so stemmte ich, nach herzlichem Abschiede, die Haustür auf zur unsanierten Sredzki 44 und ging die alten Treppen zur gerupften Wohnung ohne Bad mit Öfen und Klo auf halber Treppe, die auch in den 40ern kaum anders ausgesehen haben mag.

27. Juli 2012 09:24