Sylvia Geist

Empathie

Du hast Recht, lieber Thorsten, in meinem Text vermische ich Problemfelder und stosse so leider nicht auf des Pudels Kern. Hier liegt wohl auch die Krux meiner Ausgangsposition: ich wuenschte, es gaebe so einen Kern, eine gesellschaftliche Stellschraube, die zu justieren waere, um Exzesse zu verhueten, indem man deren Voraussetzungen bekaempft. Stattdessen gibt es solche Schrauben die Menge, und viele davon sind so locker, dass man eigentlich nur staunen kann, dass nicht noch oefter noch Schlimmeres geschieht.
Der Hinweis auf den zum Teil hysterischen Umgang mit kindlichen Aggressionen ist richtig. Leugnung des aggressiven Potenzials bringt nichts. Dass ein Mensch lernen kann, es zu steuern, darf man aber als erwiesen betrachten. Temperament ist Veranlagungssache, Verhaltensweisen werden abgeschaut und eingeuebt. Kleine Jungen (und auch manche kleinen Maedchen) „pruegeln“ sich seit Menschengedenken und werden das auch kuenftig tun, das praedestiniert sie nicht zu Gewalttaetern. Unangemessen reagierende Kindergaertnerinnen schaffen das aber auch nicht. Vielleicht ueberschaetze ich die Moeglichkeiten einer Einflussnahme auf diesen Prozess im Kindergartenalter, und die Pubertaet ist diesbezueglich die wichtigere Phase. Ich weiss auch nicht, mit wieviel Psycho-Gramm die Lizenz zum Sandkastenraufen nun genau ins Gewicht fallen wuerde. Doch dass das Wilde umso schmerzlicher vermisst wird, je weiter zum Beispiel der Weg in den Wald ist, das bezweifle ich nicht.

Und schon bin ich wieder in einem Exkurs… Wirtschaftliche Faktoren, soziales Umfeld, systemimmanent gefoerderte Fehlentwicklungen, individuelles Versagen – wenn es eine Wurzel gibt, hat sie natuerlich viele Straenge. Daneben gibt es vielleicht doch so etwas wie eine Voraussetzung, oder bescheidener formuliert: ein Phaenomen, das immer wieder anzutreffen ist, den eklatanten Mangel an Empathie, der zur Gewaltausuebung im unten geschilderten Mass faehig macht. Entsteht der aus ueblen Parolen? Muss sich erst ein menschenverachtendes Ideenwirrwarr in einem Kopf festgesetzt haben, damit jemand zum Schlaeger wird? Oder ist ein gravierender Empathiemangel eine Voraussetzung fuer die Hinwendung zu diskriminierenden Ideologien, die im Kern ohne Gewalt nicht denkbar sind?
Vieles laeuft auf Altbekanntes hinaus, nimmt im Bemuehen, einen moeglichst breiten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, die deprimierende Form von Gemeinplaetzen an. Die Fokussierung auf konkrete Teilaspekte wiederum vernachlaessigt andere Aspekte, es gibt Widerspruechlichkeiten, und es gibt die grosse graue Muedigkeit. Nichts ersetzt Elternliebe, auch so einfach kann man es sehen. Und steht dann doch wieder im Dickicht, wenn man nicht im Fatalismus landen will. (Nein, das meintest du nicht, Thorsten.) Was ich ueber Tabuisierung schrieb, beduerfte allerdings der Differenzierung. Dieses Fass habe ich im Zorn aufgemacht. Mein Aggressionspotenzial ist, wie man so sagt, auch nicht von schlechten Eltern.

31. August 2010 00:23