Hendrik Rost

Gedicht statt eines Denkmals

Jeden Tag gehe ich in Lessings
Schatten über den Gänsemarkt,
zu seinen Füßen sitzen Figuren,
die kein anderes Obdach haben,
oder Leute aus den Agenturen
und Banken, die hier ihr Unwesen
treiben. Vielleicht hat er Recht,
der Aufklärer: Ich nicht und keiner
dieser Menschen muss müssen.
Aber jeder von uns – wir werden
einander eines Tages vermissen.

Schemen des Ruhms. Mehr Denkmal
ist nicht als dies Gedicht. Es feiert
sich und sieht keinen großen
Unterschied zwischen der Tafel
aus Bronze am Sockel der Statue
und der Pappe, auf die ein armer
Teufel gekrakelt hat: Habe Hunger.
Das ist in jedem Fall Hamburgische
Dramaturgie. Über das Mitgefühl
mit anderen die Menschen zu
verstehen, die so sind wie wir.

Auf dem Gedicht landen keine
Tauben, es rostet nicht, keine
Aussicht auf künftige Größe
verzerrt seinen Blick auf die Welt.
Was es sieht, muss keinem
gefallen, nicht mal ihm selbst.
Die letzte Phase der Evolution
macht jeder mit sich aus:
für das Menschengeschlecht
Gutes zu tun. Bettler, Standbild,
Banker – ich geb dem einen
etwas Geld. Die anderen stehen
mir im Licht. Keiner verrät, was
ihn bewegt in seiner Position.

16. Mai 2014 09:34