Sylvia Geist

In welchem Land

In Deutschland. Nicht in Sachsen, sondern in Niedersachsen. Abends, nicht mitten in der Nacht. In einem um diese Abendzeit gut besuchten Altstadt-Viertel mit Theatern, Restaurants, einem Opernhaus, Shoppingmalls. Kann ein junger Mann von drei Angreifern zusammengeschlagen werden. Fusstritte gegen den Kopf erhalten. Zaehne verlieren. Hoeren, wie die Schlaeger bruellen: „Wieder! Einer! Ohne! Weissen! Stolz!“
Dem jungen Mann kann das aus vielen Gruenden passiert sein. Weil er das falsche T-Shirt trug, die falsche Frisur. Weil er mit seiner Freundin gerade von einem Konzert kam und gluecklich aussah. Weil er dunkle Augen und dunkle Haare hat. Weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weil es ueberhaupt keine Gruende braucht fuer Leute mit „weissem Stolz“.
Die ersten Gefuehle, die dem Schock der Angehoerigen folgen, sind Ohnmacht und Wut. Aug‘-um-Aug‘-Gefuehle. Selbst 1,90m gross sein wollen und zu dritt, und denen begegnen.
Dann Trauer und Ratlosigkeit. In welchem Land kann das sein. In welchem Land auch kann es sein, dass Nazis ohne weiteres aufmarschieren duerfen, waehrend der DGB um eine Gegendemonstration erst vor Gericht streiten muss. In welchem Land ist es ein Problem, eine Partei zu verbieten, die Geschichtsfaelschung betreibt und sich in ihren Wertvorstellungen offen gegen das Grundgesetz stellt, waehrend man sich Ton- und Gangart des Protests gegen die extreme Rechte zunehmend von gewaltbereiten linksextremen Gruppierungen aus der Hand nehmen laesst, die ihrerseits den Behoerden opportune Argumente fuer Verbote oder Erschwerungen von Gegendemonstrationen liefern. Waehrend ein Ex-Senator, SPD- und Bundesbankvorstandsmitglied, die in Teilen der Bevoelkerung (die in keineswegs abseitigen Diskussionsforen, u.a. grosser Tageszeitungen, mittlerweile auch schon mal als „schweigende Mehrheit“ bezeichnet werden) ohnehin schon vorhandenen Ressentiments mit aggressiv diskriminierenden Polemiken schuert, ohne sich wenigstens die Frage zu stellen, wo er sich befindet, in welchem Land naemlich.
Dann Scham. Was hat man in den letzten zwanzig Jahren getan. Was haette man stattdessen tun koennen. Was kann man tun. Friedlich demonstrieren, bestehende Initiativen unterstuetzen. Beginnen, sich etwas mehr vorzustellen. Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe, wenn das an allen Schulen unterrichtet wuerde, nicht nur hie und da in sogenannten Problemvierteln, wenn Gewaltpraevention ein Lernfach waere, gekoppelt an den Bereich „Werte und Normen“, so dass Gewalt als etwas begriffen wuerde, dessen man sich nicht nur vor irgendeinem anonymen Buergertum oder vor den Eltern zu schaemen hat (wenn ueberhaupt), sondern vor Gleichaltrigen, vor den eigenen Freunden, und zwar durchaus aus weltanschaulichen Gruenden. Es gibt solche Programme bereits, darunter auch Ideen, wie und mit welchen geistigen und emotionalen Guetern gegen „weissen Stolz“ anzugehen ist, und Menschen, die dem Einsatz dieser Gegenmittel viel von ihrer Lebenszeit widmen, das ist gut. Es gibt noch lange nicht genug davon, das sollte, das muss sich aendern. Auch meine Haltung muss sich aendern, muss mehr Muehe machen, mehr Zeit kosten, viel mehr Zeit.

29. August 2010 23:49