Gerald Koll

Karwendel im Frühling

Am ersten Frühlingsmorgen nach langen, sich hinziehenden Wintertagen und vorschnell drängelnden Sommertagen, ging Karwendel unter Bäumen hin durch die von Lokalen und Cafés flankierte Straße seines Viertels und staunte über den Farbverlust, den das Gegenlicht verursachte. Er bemerkte eine Frau, die ihm entgegen kam, doch kaum dass er sie wahrgenommen hatte, verschwand ihre Gestalt hinter einem Baumstamm. Gleich würde sie wieder auftauchen, doch sie tauchte nicht wieder auf. Die Frau musste, dachte Karwendel, in genau der gleichen Geschwindigkeit den Baum passieren wie er, dachte Karwendel und fühlte eine große Hingezogenheit und Seelenverwandtschaft und verliebte sich für drei Sekunden. Da war er an dem Baum vorbei, und hinter dem Baum war niemand.
Herr Karwendel bestellte beim Bäcker einen Kaffee und las. Auf die sonnenbeschienene Seite seines Buches setzte sich ein rötliches Insekt. Es verdeckte nicht einmal die Hälfte eines Buchstabens, aber in kurzer Irritation wischte Herr Karwendel das Insekt fort. Auf dem Papier blieb ein roter Strich, der um ein Vielfaches länger war als das gewesene Lebewesen. Wieder fühlte Karwendel eine große Hingezogenheit und Seelenverwandtschaft. Und er dachte, dass das Insekt all dies wohl anders wahrnahm als er: möglicherweise mit vielfach verlangsamter Zeit, in der es seinen Tod auf Jahre hinaus hat kommen sehen, während eine riesenhafte Hand ausholte und ihm entgegenkam, ohne dass es sich seinem Schicksal hätte entziehen können.

14. Mai 2012 10:06