Gerald Koll

Lektüre zum Karfreitag

Da Jaakob wieder nach Hebron kam (…) nahm Isaak ab und starb, uralt und blind, ein Greis dieses Erbnamens, Jizchak, Abrahams Sohn, und redete in der Weihestunde des Todes vor Jaakob und allen, die da waren, in hohen und schauerlichen Tönen seherisch und verwirrt, von „sich“ als von dem verwehrten Opfer und von dem Blute des Schafsbocks, das als sein, des wahrhaften Sohnes, Blut habe angesehen werden sollen,  vergossen zur Sühne für alle.  Ja, dicht vor seinem Ende versuchte er mit dem sonderbarsten Erfolge wie ein Widder zu blöken, wobei gleichzeitig sein blutloses Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Physiognomie dieses Tieres gewann – oder vielmehr es war so, dass man auf einmal dessen gewahr wurde, dass diese Ähnlichkeit immer bestanden hatte -, dergestalt, dass alle sich entsetzten und nicht schnell genug auf ihr Angesicht fallen konnte, um nicht zu sehen, wie der Sohn zum Widder wurde, während er doch, da er wieder zu sprechen anhob, den Widder Vater nannte und Gott.  „Einen Gott soll man schlachten„, lallte er mit uralt-poetischem Wort und lallte weiter, den Kopf im Nacken, mit weit offenen, leeren Augen und gespreizten Fingern, dass alle sollten eine Festmahlzeit halten von des geschlachteten Widders Fleisch und Blut, wie Abraham und er es einst getan, der Vater und der Sohn, für welchen eingetreten war das gottväterliche Tier. „Siehe, es ist geschlachtet worden“, hörte man ihn röcheln, faseln und künden, ohne dass man gewagt hätte, nach ihm zu schauen, „der Vater und das Tier an des Menschen Statt und des Sohnes, und wir haben gegessen. Aber wahrlich, ich sage euch, es wird geschlachtet werden der Mensch und der Sohn statt des Tieres und an Gottes Statt, und aber werdet ihr essen.“ Dann blökte er noch einmal naturgetreu und verschied.

Auszug aus Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 1. Buch: Die Geschichten Jaakobs, 4. Hauptstück: Die Flucht, 1. Kapitel: Urgeblök.

6. April 2012 11:29