Sünje Lewejohann

Salzbleich/

Salzbleich/ Wäre ich eine Taube, ich hätte kein
Gesicht. Ein Schnäbelchen nur und zwei
punktgroße Augen. Wäre ich eine Taube, ich
wüsste nichts. Bliebe ein nacktes, ein
immernacktes Ich. Nur in manchen Träumen
triebest du mit dem Strandgut an das Ufer. Läge
ein salzblasser Körper zwischen Tang und
Feuerstein. Geschliffenes Glas an Zehen und
Scheitel. Mit den Klauen kratzte ich diesen
Umriss nach. Ein Halbmond auf deinem
Gesicht. Dann böte ich gurrend meine Gurgel
feil.
Und rupfte man mir die Federn aus, bliebe mir
ein feines Knochengerüst zum Wandeln
zwischen Dachziegeln und Lehm. Zum Picken
mit knöchernem Schnabel. Zum Flügelrasseln
und zum Zeichensetzen in feinem Waldmulch.
Als letztes noch würde ich mir ein
Menschengesicht schnitzen, eine Stirn, zwei
Augen, Nase, Mund. Ich schnitzte mir ein
schiefes Lächeln hinein, ein Grübchen und eine,
nur eine einzige, ausgefallene Wimper.

17. Juni 2010 08:09