Andreas H. Drescher

SONDERMARKEN

Das Reißen unter meinem linken Schulterblatt war ein sehr frommes Reißen. Bis heute Morgen. Denn von heute Morgen an arbeitet sich das Nicht-mehr-ganz-so-Fromme auf einer Welle aus mittel-hohem Adrenalin durch mich hindurch.

Genau in Richtung dieses frühen Abends, als ich ihren Koffer die elf Stufen zur Post hinauf schleppte. Den Stoff-Koffer, den die alte Dame mit den aufgelösten Haaren auf ein Metallgestell mit zu kleinen Rädern geschnallt hatte.

Oben angekommen, bedankte sie sich nicht, nestelte nur fahrig am leicht verrutschten Expander herum und drehte mir dabei so konsequent den Rücken zu, als wolle sie verhindern, dass ich ihr noch einmal meine Hilfe anbot.

Ich kümmerte mich nicht darum, ich machte mir schon Sorgen um meine Schulter, in der gerade auf der neunten der elf Stufen ein merkwürdig metallisches Springen zu verzeichnen gewesen war.

Schon beim Anheben hatte ich mich verschätzt. Der Koffer war weit schwerer gewesen, als ich erwartet hatte.

Erst nachts begann das Reißen, weckte mich und war selbst auch von drei Aspirin nicht mehr zum Einschlafen zu bringen.

Ich hatte nur diesen einen Trost: eben den, dass es ein frommes Reißen war, eines direkt aus der Menschenfreundlichkeit.

Natürlich war ich ein wenig irritiert, als sie mir noch häufiger mit ihrem Koffer in der Stadt begegnete, aber ich ließ mich davon nicht anfechten.

Bis heute Morgen. Denn heute Morgen war ich gleich nach dem Termin beim Chiropraktiker noch auf der Post, um Sondermarken zu kaufen.

Da zerrte die Alte mit den wirren Haaren ihren Koffer diesmal ganz ohne Hilfe die elf Stufen herauf, und die Postlerin flüsterte:

„Sie nimmt ihre Bücher mit, wenn sie aus dem Haus geht. Aus Angst, die werden ihr gestohlen!“

18. Dezember 2013 10:23