Sylvia Geist

Sturm

Meine Erinnerungen an Thomas Kling beschränken sich auf eine einzige Begegnung. Und die war eigentlich gar keine. Ich war damals Praktikantin in einem Literaturhaus in Berlin und genoss das Privileg, von meinem Arbeitsplatz gegenüber dem Chefschreibtisch so gut wie alles, was sich hinter den Kulissen abspielte, aus der Nähe, zugleich aber aus dem gesegneten Stand der Unwichtigkeit und damit der nahezu völligen Unsichtbarkeit heraus zu beobachten.
Einmal befand sich das ganze Haus schon am Vormittag in heller Aufregung. Auf meine verwunderte Frage, was denn los sei, antwortete mein Chef nur: „Kling.“ Aus seinem Tonfall sprach die Vorab-Erschöpfung eines Menschen, der weiß, dass er in den kommenden Stunden einem Naturereignis mit ungewissem Ausgang ausgesetzt sein wird. Abgesehen davon verstand ich nur Bahnhof.
Als Kling dann durchs Büro gefegt war, war mir manches klarer geworden. Doch mein Verständnis hielt sich immer noch in Grenzen, sowohl was die Selbstverständlichkeit betraf, mit der er die Kapitulation anderer vor seinem Temperament vorauszusetzen schien, als auch hinsichtlich des Verhaltens von Leuten, die es sonst gewohnt waren, in schwierigen Situationen souverän zu reagieren. Was ich an diesem Nachmittag beobachtete, sah Furcht zumindest zum Verwechseln ähnlich: Furcht, noch mehr falsch zu machen (denn offenbar war längst alles Mögliche falsch gemacht worden), Furcht, mit ein paar allzu treffenden Worten verletzt zu werden, Furcht vor einem Eklat. Ich fühlte mit, merkte, wie mir selbst der Blutdruck stieg, und bewunderte meinen Chef für seine Selbstbeherrschung (und hätte ihn doch noch mehr bewundert, hätte er sie fahren lassen – ich war eben jung).
Entsprechend ab- und angespannt ging ich abends zur Lesung. Dass sie mir unvergesslich geblieben ist, braucht keinem versichert zu werden, der je eine Kling-Lesung erlebt hat. Nie zuvor war ich Zeugin einer solchen Präsenz gewesen. Wir lauschten einem Menschen im Zustand der Hingabe. Der Auftritt, dem ich vorher beigewohnt hatte, war nicht etwa verständlicher, sondern was die Mühe, es zu verstehen, zu lohnen versprach, fand genau jetzt statt.
Mittendrin stand ein älteres Paar von seinen Plätzen in der ersten Reihe auf und schickte sich an, den Saal zu verlassen. Atemlos erwarteten wir ein Donnerwetter. Doch Kling sah nur kurz auf und sagte – nach dem Tornado im Büro überwältigend – milde, als verstehe nun er, dass nicht jeder jedem Ansturm standhalten könne: „Ja, gehen Sie ruhig. Und einen schönen Abend noch.“ Dann las, nein: rezitierte, stürmte, sang er weiter.

1. April 2011 14:51