Mirko Bonné

In the Mood

Wir fuhren hinauf nach Montemurlo
zu viert in Angelos blauem Golf
ein Abend unter den Amseln
etwas war an den Bäumen (
sie waren alberi, keine Bäume
merli saßen darauf und sangen)
das schwang sich auf in die Luft
weiter hinein in den Körper und
war für einen Moment etwas anderes

Ich hatte ein Stereotape gefunden
nachts an einem Straßenrand in Prato
Nat King Cole e Glenn Miller, Orosk 041
und S.I.A.E. war vielleicht eine Marke
weich, sehr weich ein Zusammenschnitt (
auf der Fahrt zu dem abgelegenen Bergort
ließen wir ihn durch den Rekorder schnarren
Nacht, Bewegung, Brisen und Konfiguration)
O Radiodiffusione who who who may know

*

Album (1): 1994

*

29. Januar 2010 12:57










Marjana Gaponenko

Agafon, der alte Trinker

με Αγάπη

Schneenacht, zögere nicht –
eine Witwe wartet auf dich
an einem Zaun,
ein Häufchen Atem.

Steig herab für eine, die da steht,
den Mann empfangend,
der nur einmal
nicht heimkam.

Er sei ihr
näher als je zuvor.
Er soll in ihre Augen schneien
und gleiten als Eiskorn
zur Herzkammer.

Bis sie ihn versteht,
das Gesicht in den Händen vergräbt.
Agápe.

26. Januar 2010 22:41










Mirko Bonné

Reise der drei Waisen

all this was folly
T.S. Eliot, Journey of the Magi

Waisen nannten sich die Drei, die mich mitnahmen,
willkommen bei den Waisen aus dem Gutenmorgenland!
Sie führten sich auf wie gerade noch davongekommen.

Die Wege aufgeweicht, der reinste Softie, das Wetter,
meinte das Mädchen, das der Alte bloß Bunny nannte.

Sein Kollege saß vorn, im Mantel eines Spaniers,
dessen Leichnam jetzt in einer Benzinlache liege,
irgendwo in einer Kranwagenhalle. Der Stoff stank,
besonders nachts, wenn sie die Heizung aufdrehten.

Sie waren Blender, und nichts gehörte ihnen außer
dem Zeug, das sie am Körper trugen, und dem Zeug,
das sie sagten und ihnen die Langeweile vertrieb.

An was sich erinnern, fragte der Alte mal, alles
ist ein Film, rückwärts läuft gar nichts. Besser,
in einem schrottreifen Toyota auf Schleichwegen
und hinein in Ortschaften fahren, wo der Trübsinn
einen anfraß wie Grus wegschmelzenden Pappschnee.

Bunny kreischte etwas, was niemand verstand,
sie sprang raus und steckte vor einer Videothek
den Pappmann in Brand. Von dem Grünstreifen
zwischen zwei Parkbuchten stoben Insekten auf,
als sie dort tanzte, während wir bloß zusahen.

Der Alte stieß die Fahrertüre auf, stieg aus und
trat den verkohlten Kinohelden wortlos zusammen.

Ich fing an zu brüllen wie sie, aber dozierte
dabei noch immer von Passage zurück in die Geburt,
und sofort lachte mich der Klub still. Wir fuhren
durch leergefegte Nester ins Bergland hinauf, feucht,
knapp unterhalb der Schneegrenze, duftend nach Grün.

Auf der Suche nach einer Tankstelle mischten sie
die Dörfer der Katzenbesitzer auf und beschlossen
(oberste Regel: Sonnenbaden ist für Untote tabu),
tagsüber zu schlafen, in der Nähe von Wasser, und
nachts zu fahren, süßlich singende Stimmen im Ohr.

Doch was sie sagten, bedeutete nichts, ihr Ziel
war vielleicht eine Huldigung, wohl kaum aber
die Huldigung eines Kindes, eher die ihrer Leere.
War der Tank voll wie die Sonne, ging es weiter.

Kurz vorm Festfressen der Kolben, kurz bevor wir
zu dem Hafen kamen und im Schatten, den ein Frachter
durchs Nachmittagslicht auf die Mole warf, hielten,
fiel dem Alten am Steuer plötzlich das Haus ein.

Für das Mädchen und Mantelmann war die Reise zu Ende,
als sie Betten witterten. Das Land, endlich war es da.

Ein Klepper leckte den Regen vom Zaun. Ich sah Vögel
auf alten Bäumen, sie hackten den Harsch von der Rinde.

Als gäbe es eine Wahl, schnitten wir uns Teller zurecht
und hörten wieder zu reden auf. Im Tausch mit den Bauern
gingen Schals weg, Posaunen, und der Alte holte Lexika,
Tassen und Fotobände aus dem Kofferraum, während Bunny
morgens im Schneeanzug am Campingtisch Pasta kochte.

Sie kam in mein Bett und sagte, sie würde es tun mit mir,
wenn ich ihr meine Lederjacke gäbe. Ich gab sie ihr so,
sie rannte runter, und ich hörte unten den Anlasser heulen.

Als ich wieder aufwachte, war es still. Das Licht fiel
durchs Klappfenster. Im Garten des Nachbarhofs standen
Blumen und sahen aus, als fotografierten sie das Gras.

Geborenwerden und Sterben sind manchmal eins, dachte ich
und wünschte mich nicht länger zurück. Ich lebte wieder.
Leben war mehr als Warten, und so vergaß ich das Kind,
vergaß die drei Waisen und zuletzt das Gutenmorgenland.

*

6. Januar 2010 17:11










Andreas Louis Seyerlein

~

0.05 – Vor wenigen Minuten hatte ich das Licht über meinem Schreibtisch ausgeschaltet und etwas Lebenszeit in Dunkelheit verbracht. Ich will Ihnen rasch erzählen, warum ich so gehandelt habe. Ich war nämlich spazieren gewesen stadtwärts unter Menschen in Warenhäusern und auf einem Weihnachtsmarkt, weil ich nachsehen wollte, ob sich in dieser Welt, die wir bewohnen, etwas geändert haben könnte, da doch vor wenigen Stunden durch Unterlassung entschieden worden ist, dass Bangladesh, dass das Gangesdelta in den Golf von Bengalen sinken wird. Ich dachte, das eine oder das andere sollte doch spürbar, sichtbar, fühlbar werden, ein wenig Unruhe, ein leises Klappern der Zähne vielleicht. Aber nein, alles Bestens, alles im Lot. Und als ich wieder an meinem Schreibtischs saß, war da plötzlich ein starker Eindruck von Unwirklichkeit, das alles und ich selbst könnte reine Erfindung sein. Ich löschte das Licht über dem Schreibtisch und wartete. Und während ich so wartete, lauschte ich den Stimmen der Tiefseelefanten, einem Orchester zartester Rüsselblumen, wie sie auf hoher See den Himmel lockten. Und als ich das Licht wieder eingeschaltet hatte, saß ich dann noch immer vor dem Schreibtisch, die Hände gefaltet. – Schnee fällt. stop. Langsam. stop. Leise. stop. – Ein gutes, ein nachdenkliches, ein glückliches Jahr 2010!

> particles

3. Januar 2010 18:25










Andreas H. Drescher

Lagunengedicht 2

Zuviel das alles
In dieser Reise kommst du erst an
Wenn du zu Hause bist

Oft habe ich das gedacht auf diesen

B r ü c k e n

(Auch von mir die allerbesten Weihnachtsgrüße.)

24. Dezember 2009 11:18










Marjana Gaponenko

Piotr VI

(Kohlenzange)

Wer erwachte in der frostigen Nacht?
Wessen Zittern trat ans offene Fenster?
Kletterrosen krochen zu ihm im Traum
blutend die Hauswand empor.

Ob du es warst, der eine Zange nahm,
die rauschenden Köpfe der Blumen
mit Kohlestücken vertauschend,
sie so zu pflücken aus der Glut?

Sie war es nicht, die lächelnd
aus deinem Spiegel trat und sich
als Träne auf die Brust dir legte,
versteinerte und wieder schwand.

Sie kann es nicht gewesen sein
die gütig dich zerriss, zerstreute
in dem Tal wo ihr nicht tanzt
im Schatten des anderen

brandend, an einander rollend,
zerschellend in aller Ewigkeit.

20. Dezember 2009 01:21










Björn Kiehne

Ein und aus

Jetzt steht das Auto endlich still.
Das Garagentor schließt sich,
diese dunkelrote Muttertür –
ich, embryogekrümmt im Bauch des VWs.

Suche noch immer das gelbe Tuch,
das du mir schenktest.
Du trugst es drei Tage lang um den Hals.
Es roch nach dir,
und als du gingst, blieb mir dieses Tuch und
dein Geruch zwischen meinen Fingern.

Nun atmet die Stadt endlich leiser.
Der Balkon löst sich vom Mietshaus,
ein Schiff mit Margeritensegeln –
ich, unterwegs in die Nacht.

Taste noch immer nach der Frage,
die in mir flüsterte.
Sie war so unaussprechbar klar.
Sie sprach mit dir.
Und als ich allein war, blieb mir diese Frage
im dunklen Raum zwischen Zunge und Gaumen.

Jetzt füllt die Stille endlich den Raum.
Auf deinen Anruf warten,
blitzende Satellitensignale –
weiter atmen, ein und aus.

11. Dezember 2009 14:14










Marjana Gaponenko

Piotr V

(Schlaf)

Bevor du hinter den Lidern verschwindest,
in den eigenen Augen deine Spuren verlierst,
flammt die liebste Erinnerung auf : die Nacht
unter deren Zweigen du erhobenen Hauptes nicht gehst,
weil sie dich auf ihren Schenkeln, den Straßen, rollt.

Zuvor nagst du dich daran satt,
beißt dich fest in das, was nicht zu halten ist:
des Nebels zärtlichen Handschuh,
den Rabenschlaf – der Bäume Winterfrucht.
Du schaust dich wund
am Antlitz einer Frau,
der einzigen die du nicht haben kannst –
ein Engel der nur zu lieben weiß
durch dich hindurch die Welt.

7. Dezember 2009 19:06










Andreas Louis Seyerlein

~

22.28 – Seit einigen Tagen denke ich, sobald ich lese, begeistert an Neurone, Synapsen, Axone, weil ich hörte, dass ich mittels Gedanken, die Anatomie meines Gehirns zu gestalten vermag. Vorhin, zum Beispiel, ich folgte der Ankunft eines Schiffes in New York im Jahre 1867, überlegte ich, was nun eigentlich geschieht in diesem Moment der Lektüre dort oben hinter meinen lesenden Augen, ob man verzeichnen könnte, wie für das Wort Mary, das in dem Buch immer wieder aufgerufen wird, frische Fädchen gezogen werden, indem sich das Wort nach und nach mit einer unheimlichen Geschichte verbindet. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schlafend, Stunde um Stunde, Geräusche fallenden Wassers vernehme? In der vergangenen Nacht jedenfalls habe ich wieder einmal von Regenschirmtieren geträumt, sie scheinen sich fest eingeschrieben zu haben in meinen Kopf, vielleicht deshalb, weil ich sie schon einmal nachtwärts gedacht und einen kleinen Text notiert hatte, der wiederum in meinem Gehirn zu einem bleibenden Schatten geworden ist. Natürlich besuchte ich meinen Schattentext und erkannte ihn wieder. Trotzdem das Gefühl, Gedanken einer fernen Person wahrgenommen zu haben. Die Geschichte geht so: Von Regenschirmtieren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich so durch die Stadt ging, beide Hände frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und ich staunte, nie zuvor hatte ich eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, die Flughaut der Abendsegler. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnete noch immer. Jetzt sitze ich seit bald einer halben Stunde mit einer Tasse Kaffee vor meinem Schreibtisch und überlege, wie mein geträumter Regenschirm sich in der Luft halten konnte. Ob er wohl über Augen verfügte und über ein Gehirn vielleicht und wo genau mochte dieses Gehirn in der Anatomie des schwebenden Schirms sich aufgehalten haben.

> particles

30. November 2009 13:48










Andreas Louis Seyerlein

~

Ein Nachtfalter segelte durch mein Arbeitszimmer. Das Tier war so müde und so schwach, dass es nachgab und sich der Luft anvertraute. Kurz darauf saß der Falter auf dem Boden und ich hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. – Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Ein Paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ob ich den Falter füttern sollte, über den Winter bringen? Er könnte vielleicht 250 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der rasch bei mir zu Kräften kommen möchte. Ich notiere:

~ : louis
to : Mr. jonathan noe shapiro
subject : CONEY ISLAND

Mein lieber Shapiro, das müssen Sie wissen, ich bin glücklich, fühle mich leicht, alle Sorgen der vergangenen Wochen sind von mir gefallen, ein Mensch, der mir nahe ist, wird weiterleben. Wie schweren Zeiten, leichtere Zeiten folgen! Nun wieder ein angenehmes Arbeiten. Bin zu atlantischen Phänomenen zurückgekehrt, das Hörvermögen der Tiefseelefanten, natürlich, eine unendliche Geschichte. Habe darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, dass Tiefseeelefanten über kleine, kaum noch sichtbare Ohren verfügen, die an ihren Rüsselspitzen gewachsen sind über Jahrmillionen ihres heimlichen Lebens hinweg, um hören zu können, was man spricht in der Trompetensprache jenseits des Wasser. So könnte ich weiterkommen in dieser Angelegenheit. Es ist nun beinahe sicher, dass ihre Herden bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vor Coney Island im Staate New York wahrgenommen worden sind. Ein Herr schrieb mir von Hand, seine geliebte Rose habe ihm, während eines Ausfluges an den Strand, von Erscheinungen erzählt, die alle unsere Vermutungen bestätigen. Ich füge, lieber Shapiro, meinem Brief eine Fotografie hinzu, die an genau jenem Tag der Beobachtung aufgenommen worden sein soll. Sieht sie nicht hinreißend unsterblich aus, Mrs. Rose, wie sie so sitzt und sich über das Tiefseeleuchten ihres Kopfes zu freuen scheint? – Ihr Louis, ihr Vogel.

gesendet am
14.11.2009
22.58 MESZ
1668 zeichen

atlantik
louis to jonathan
noe shapiro >>

16. November 2009 18:38