Hartmut Abendschein

Colombo Müller

epoché, Zurückhaltung des Skeptikers. „Ich schreibe keinen entschiedenen Satz mehr, ohne versucht zu sein, ein ‚vielleicht‘ hinzuzufügen“ (André Gide, Tagebuch 1939-40, vgl. auch Barthes, Neutrum, 93)

Dort, auf der nächsten Seite: Der neutrale Diskurs ist im Idealfall keineswegs ein Diskurs im Konjunktiv, denn die grammatischen Modi gehören noch zum Sein. (Vielleicht (vielleicht!) deswegen die Aggression, die den Leser Kerben Kleinstein überkam, als er Dranmor las, dieser: bewusst ein Diskurs in den Konjunktiven … Hier auch an den Plural denken. Überhaupt: Dranmor (den Text, die Figur, den Erzähler als Erscheinungsformen des Neutrums betrachten.)

(Zum Werk vs. Schreiben:) Das Werk: als Idee der Konzeption und Umsetzung, der Produktion und Projektion also, eine (Duft-)Marke. Das Schreiben dagegen, das auf sich selbst zielt, als Transpirationsprozess. Letzteres als (eigen-)körperwichtige Funktion. Als Stoffwechselfunktion. Ersteres als Impuls der Einflussnahme auf andere Körper.

Und: Der Anzeiger und seine Anzeiger. Die gewerbsmässigen Denunzianten. (Man denke an die Lifestyle- und Personalityspalten der Gratisblätter, die nun auch die anderen zu durchziehen beginnen. Sykophantenmärkte. Egglotogastorendienste der Nachtseitenmenschen.

Nicht: stw = colombo AND müller

Überhaupt: besteht die Welt aus Licht und Husten. (Was ich mache, sagt mir B., sei Protokollliteratur. Was er mache, sage ich B., sei Traktandenliteratur. Wir beschliessen, uns irgendwann einmal zusammenzutun.)

Noch einmal zu meinen Lektüren, Verknappungen, Anverwandlungen und Umwandlungen: Dem „Sinn“ der notula? Vielleicht mag man es auch als eine Art Zuschauerkunst bezeichnen. Es wird eine Möglichkeit des Schreibens gegeben. (Und nun und darum: wo man auch über den Blick arbeitet, immer drängender die Frage: Warum und woran entdecken und erkennen mich die Dinge?)

Der Tagesfilm wurde noch nicht gedreht. Was sucht nach mir? Was begehrt mich? Was will noch eingefangen werden? Vielleicht der Hofmannsthal da an der Wand? Profilweise und in Konfrontationsgegenstarre: Fingerring, rechte Hand. Jackenknöpfe, Stehkragen, Schnauz und Scheitel. Daneben: die Löschdecke flame stop.

[notula nova 34]

21. April 2009 08:54










Markus Stegmann

dehnt

der weder schlägt
macht parliert und
zementierte
sag und
bleibe
die motorische die
betritt aber federnd
ins Hinterland
Stauseen heisst es
laue Luft kommt schwarze
kommt Nacht
Sediment
schwerelose Pfirsiche im Schlupfloch
liegende Stirnen
gewässert abgelegene
Spuren Büsche verwachte
Bootsspuren alt ausser
im Kauwasser tropfende
Platten schwerer Tiere
metrische Beschläge am
Sperrhahn fürs Frischwasser
Kehle ein
Metronom dehnt das Gestirn
zwischen fort und
Folge davon binden
Fische das letzte Geflecht
welcher Darm schnitt
den Faden

25. März 2009 23:49










Hans Thill

Hans Test unterschreibt einen Appell

Hans Test hatte nicht viel zu verschenken. Gestern Abend hatte er einen Satz gelesen, der ihn heute morgen auch noch nicht los ließ: »Enteignet die schamlosen Enteigner.« Daß Eigentum Diebstahl war, wußte er noch von dem Anarchisten Proudhon, dessen Buch mit dem Titel »Was ist das Eigentum?« ihm im revolutionären Portugal aus dem offenen Auto gestohlen worden war. Aus der selben Zeit fiel ihm ein, wie Landfried Schröpfer, ein experimenteller Heidelberger, einen Freund, der auf seinem geistigen Eigentum bestand, im Gedicht polemisch gefragt hatte: »wieso behältst Du Deine Texte nicht für Dich?« Es gab damals Zeitschriften mit Namen wie MOVENS.
Hans Test schaltete seinen Computer an. Bis der Bildschirm den in Kieselstein-Kreisen organisierten Zen-Garten zeigte, pulte er sich ein Stück Hornhaut von der Handfläche. Test würde später in den Verlag gehen. Er würde ein Manuskript lesen und korrigieren, mit dem Autor telefonieren und einen Termin ausmachen, in dem man die beträchtlichen Änderungen, die er für notwendig hielt, diskutierte. Er würde dann in der wöchentlichen Sitzung mit den Kollegen besprechen, was für die Förderung der einzelnen Titel zu untenehmen war. Er würde über die Gestaltung eines neuen Buchs sprechen, die Vertetersitzung vorbereiten.
Hans Test erinnerte sich, wie er bei einem Streitgespräch im Hinterzimmer einer Pizzeria ebenfalls in den siebziger Jahren einem Bauunternehmer die Berechtigung abgesprochen hatte, sich als jemand darzustellen, der arbeitet. Er nannte den biederen Badener einen Faulenzer, der seine Bauarbeiter ausbeutete. Ohne den Chef wäre alles sicher noch besser organisiert! Wenn die Bauarbeiter in eigener Regie die Baustelle übernehmen, werden Büroexistenzen wie Sie endlich überflüssig sein!
Einstweilen suchte Test aber nach dem Wort »Enteigner«. Im Netz fand er eine Debatte über die zunehmende Enteignung der Autoren durch die amerikanischen Einscanner von Texten vor. Er folgte dem link bis zur Seite http://www.textkritik.de/urheberrecht/
Hier stand der Ohrwurm-Satz als Überschrift eines Artikels der FR gegen die Übergriffe der Suchmaschine GOOGLE, verfasst von Roland Reuß, auch so ein Heidelberger, Literaturwissenschaftler, Entzifferer von Handschriften, Professor, Kopf des INSTITUTS FÜR TEXTKRITIK. In einem zweiten Artikel über den Veröffentlichungszwang für wissenschaftliche Texte, diesmal in der FAZ abgedruckt, bezeichnete Reuß sich listig als »Niemand«. »Ich bin dieser Niemand«. Odysseus spricht zu Polyphem. Reuß nannte den Veröffentlichungszwang in OPEN ACCESS eine »klammheimliche technokratische Machtergreifung.«
Im Fall GOOGLE ging es um einen Fall der Realgroteske, die Test, selbst fast kein Jurist, in mehrfacher Hinsicht ungerecht und nicht hinnehmbar fand, die aber trotzdem von allen Autoritäten offenbar als Vorgehensweise akzeptiert wurde. In den USA schloß die Suchmaschine mit dem schönen Dadaistischen Namen einen Vergleich mit Vertretern einer amerikanischen Autorenorganisation ab, der auch für ihn, Hans Test, hier in Heidelberg Geltung haben sollte, es sei denn, er mache dort, in den USA, einen Einspruch geltend, den er dann mit einem teuren Gerichtsverfahren gegen das mächtigste Unternehmen der IT-Branche durchzusetzen hatte.
Test fühlt sich an das Vorgehen von agrarischen Großkonzernen erinnert, die Erbinformationen einer Reissorte, die in Jahrtausenden beständiger Arbeit von Generationen indischer Bauern gezüchtet worden war, von schlecht bezahlten Chemieassistentinnen in einem Labor bestimmen ließen, um sie patentieren zu lassen und dann an eben diese indischen Bauern zu verkaufen. Dieselbe Strategie hier: Daumen drauf! Schon gescannt! Meins!
Im fraglichen Vergleich wurde jedem Autor für die Verwertung all seiner Bücher, die im Internet als Hintergrund für Werbebanner bereits veröffentlicht wurden und in Zukunft werden sollten, ein einmaliger Betrag von 60 Dollar angeboten.
Hans Test dachte, wenn einer Schmecker hieß und Vegetarier war, und ein Fleischkonzern nannte eine aus Abfällen hergestellte Streichwurst nach diesem Namen, weil seinen Werbestrategen nichts besseres einfiel, dann würde dieser Schmecker doch vielleicht etwas dagegen unternehmen? Oder wenn ein Motor entwickelt worden war, der mit Essig lief, benötigte man alle deutschen Weinberge zu Herstellung des neuen Kraftstoffs. Man verpflichtete also die Winzer zu Ablieferung ihrer Trauben und bot ihnen aber nur einen geringen Preis, weil man ja schließlich Essig produzierte und keinen Wein. Federführend ein Konsortium aus der Zentralkellerei der Winzergenossenschaften / Breisach und einem Ölmulti wie Exxon.
Die Abschaffung des wissenschaftlichen Verlagswesens, wie sie von Universitätsverwaltungen durch den Veröffentlichungszwang in OPEN ACCESS betrieben wurde, kam ihm mindestens so grotesk vor, wie die Vision eines mit Essig betriebenen Twingo. Nach einer durchzechten Nacht, Augen haben wie ein Twingo. Volltext trinken. Guglhupf essen, dazu einen Gewürztraminer. Das alte Europa, linksrheinisch.
Test wußte sofort, das waren alles hinkende Vergleiche. Stammelnde Verse, hinkende Vergleiche, krumme Sätze. Wenn die Lektorate bald abgeschafft waren, dann wäre all dies nicht mehr ein künstlerisches Mittel der Auflehnung gegen die Schrecken der Schrift, sondern im Gegenteil ästhetischer Alltag der Leser flacher Examensarbeiten, verfasst von alleingelassenen Schreibern. Federführend, ein seltsam altertümlicher Begriff.
Test nahm sich vor, dann wieder ordentlicher zu schreiben, alle Regeln schön brav einzuhalten, was ihm ein Greuel war. Und jetzt dachte er sich bereits aus, welche Banner bei jenen seiner Texte erscheinen könnten, die er selber ins Netz gestellt hatte. Das heiße Fleisch der Wörter? Der Schweinekiller NORDFLEISCH. Der Barbar von Vézelay? Irgendein elektronisches Spiel, von der Sorte, die gerade dabei war, die Grenze des Virtuellen zu überschreiten.
Auf einen Zettel notierte Test: »Miami, die Haie fressen unsere badenden Töchter, weil sie im leergefischten Meer nicht mehr genug Nahrung finden.« Noch so eine Idee von gestern Abend. Jetzt hatte er sich schon wieder nach Miami gebeamt. Die Imagination war immer noch ein rascheres Transportmittel als der schnellste Rechner. Test nahm sich vor, in Zukunft noch mehr im eigenen Kopf zu suchen und weniger im Netz. Und umgekehrt: Ohne die Kreativität der Einzelnen würde auch für GOOGLE bald nichts mehr zu posten sein. Er dachte an das freundschaftliche Auge-in-Auge eines Verwertungsvertrags, wie er im Idealfall zwischen Autor und Verleger abgeschlossen wurde. Wie viele seiner Freunde verstummt waren, weil sie keinen Verlag für ihre Texte interessieren konnten. Er dachte, daß man die wertschöpfenden Kleinunternehmer gegen die destruktiven Konzerne unterstützen mußte. Die Dynamitfischer der Weltmeere. Die Explorateure und Suchmaschinen. Die Claimabstecker.
Da Hans Test seine Texte nicht für sich behalten konnte, wollte er sie sich auch nicht einfach so nehmen lassen. Erneut ließ er seinen Browser kommen, rechts oben ins Suchfenster schrieb er EXPROP und fand wirklich einen Immobilienmakler dieses Namens in Mahopac, New York. Test blätterte ein wenig und dann erschien die passende Losung im roten Latein des 19. Jahrhunderts: „Die Expropriateurs werden expropriiert“ (Karl Marx).

25. März 2009 19:37










Hartmut Abendschein

Spieltheorien

Und: Nichts leichter als eine Theorie der Fragmente. Nichts schwerer aber als ihre Ordnung. (Vgl. Barthes, Neutrum, 41f. Ein Vorteil eines literarischen Weblogs, da, je nach Software, immer: random function. Gerechtigkeit).

Noch ein Name. „Hans Lick“, nach dem Hanslick-Syndrom. (Über die „Moderation des Archivs“ nachdenken. Zwiegespaltenheit. Einerseits Befreiung des Worts, Zerstörung des Kontexts (Operation Freedom), Datenhegelianismus, Vision. Andererseits: Verlust der Sicherheit über etwas sprechen zu können. Ich wird zum alleinigen Kontext eigener Rede. Trauer. Nostalgie).

Überhaupt: Bevor es zu spät ist, bevor es eng wird. Der spatial turn. Die Landschaftswissenschaft. Promenadologie. ( „I have a nightmare“ und „Wo ist der goldene Fallschirm?“. Go to Minoritenkultur.)

Das Hugo-Ball-Spiel (Skizze): Das Krippenspiel wird in 5-6 Sprachen und phonetisch kontrastiv auf einer Matrix (mit Kontingenzmechanismus qua Reload) dargestellt (aufgetischt, aufgebahrt, verexcelt, wieauchimmer, digital natürlich). Heisst: Phoneme isolieren, Datenbanken, random function, laut lesen, lachen, neu mischen, lachen …

„Schwarz ist es ja, aber Lakritze ist es nicht“ (Frau Waas zu Lukas, dem Lokomotivführer)

Nachtrag zum Hugo-Ball-Spiel: Lange Diskussion darüber mit BH Franzen. Prinzipielles Einverständnis in die Notwendigkeit des Spiels. Aber. Kompetenzzuordnungsfragen. Ansatzdivergenzen. Verantwortlichkeiten. Heute sind wir keine diskursive Formation. Heute versandet die Sache. Aber immerhin: die Idee wurde gedacht, steht hier und ist damit schon bestens umgesetzt.

[notula nova 31]

24. März 2009 13:13










Hans Thill

Stele

Abdelkebir Khatibi
1938-2009

Sozio-Clips

Das traf mitten ins Herz. Er war völlig verblüfft. Weshalb der Wutausbruch der alten Freundin gegen ihn und seine Ethnie, weshalb die unglaubliche Heftigkeit? Aus welcher Nacht kam dieser Schrei? Ich höre noch immer die vergiftete Stille. Soll man aus dieser Szene einen Roman machen? Ein Theaterstück? Einen Film? Eine fetzige Zeichnung? Und dieses bissige Notat, wird es genügen, um unser Leiden zu bannen? Es war Sommer, mein Rücken schaute auf den Ozean. Drift der Kontinente in eine archaische Chimäre.

Rassismus? Der Haß auf den Genuß des Anderen, wird gesagt. Ja, aber gibt es denn zwischen dem latenten und dem manifesten Rassismus, zwischen Implosion und Explosion, nicht die permanente und imaginäre Vernichtung des Anderen an sich? Gibt es nicht die universelle Barbarei, die allen Menschen zueigen ist? Gewiß, da ist nichts zu machen, oder nur wenig, sehr wenig.

Eine Form von Gastfreundschaft findet sich in kriegerischen Gesellschaften. Gastfreundschaft: Fortsetzung des Krieges durch die Riten des Friedens. Die Strategie, das Spiel von Distanz und gesellschaftlicher Nähe werden dann einer Abfolge von Zeremonien und Speisen unterworfen, die ebenso geregelt sind wie die Abfolge der Jahreszeiten.

Einen bourgeoisen Franzosen beobachten, wie er den Figaro bei einer Tasse Kaffee entfaltet.

Die Werte und Gloriolen, die sich ein Land gibt, findet man in den Straßennamen, also in der Verehrung der Toten.

In der Pariser Metro die Bemerkung eines Afrikaners zu einem anderen: »Ich verstehe nicht, weshalb die Muslime in Frankreich fasten. Die Tatsache, daß sie hier sind, ist doch Fasten genug!«

Der Blick fällt auf eine Geschäftsstraße. Als ich diesen Schlachter (boucher) mit seinen beinahe theologischen Gesten betrachte, denke ich, daß er gewiß Monotheist ist, der Schweine-Metzger (charcutier) hingegen eher ein Schamanist. Initiation zum Opfer: Basis jeder Gesellschaft, jeder Sekte.
Und noch etwas habe ich gesehen: ein Balinese, der sein Milchferkel im Freien brät, scheint in einem Schattenspiel zu tanzen, gleichsam eine Szene der Seelenwanderung.

Sozio-Clip? Ein Notat, so rasch wie der indiskrete Blick auf den Anderen.

(Eigene Übersetzung aus: Abdelkebir Khatibi, par-dessus l´épaule, Aubier, 1988)

19. März 2009 14:20










Marjana Gaponenko

Annuschka V

Tritt ans Fenster, Annuschka, Liebe,
ans noch unbeschlagene Glas!
Lass das Tuch dir entgleiten vom Leib,
in die Ferne rasen, unter die Erde sinken,
die Hölle anzünden, die so leer ist, so kalt –
dein Tüchlein – eine bemusterte Flamme.
Annuschka, nackt musst du sein, wenn du weinst.
Dass du lachst, ist der Stimme verborgen,
die nachts dich bewacht,
dich von Zweigen anschaut:
durch die Tropfen die blinzelnd fallen,
mehrfach dein Bild in die Erde gehaucht.
Es wird weder minder noch mehr,
auch vom Schauen, das so sanft, so stark ist,
dass eine Stimme entsteht im Raum.
Sie beginnt sich zu drehen,
das Dunkle zu Licht zu zermahlen.
Anna, du stehst und du eilst, es ist Nacht.
Da sie blendet, schließt du die Augen,
und tanzt, weil du lachst, deine Tränen ableckend.
Und dein Tuch kann nicht fallen.
Und es gleitet Tropfen für Tropfen herab.

16. März 2009 16:45










Andreas Louis Seyerlein

~

6.08 – Vor Jahren einmal entdeckte ich nach stundenlanger Suche in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek eine Fotografie auf einem Mikrofilmstreifen und ich wusste sofort, dass ich dieses Lichtbild besitzen musste. Ich bat eine Bibliothekarin, aus dem Material das Beste herauszuholen, höchste Auflösung, weswegen ich bald einen kleinen Stapel Papiers entgegennehmen konnte, den ich im Arbeitszimmer an einer Wand zum Bild zurücksortierte, zur Ansicht einer Strasse des Jahres 1934 präzise, einer Strasse nahe des Bellevue Hospitals zu New York. Staubige Bäume, eilende Menschenschatten, die Silhouette einer alten, in den Knochen gebeugten Frau, der Wagen eines Eisverkäufers, rostige Hydranten, die spröde Steinhaut der Strasse, zwei Vögel unbekannter Gattung, Spuren von Hitze, und ich erinnere mich noch gut, dass ich eine Zeile von links nach rechts auf das Papier notierte: Diese Strasse könnte Malcolm Lowry überquert haben, an einem Tag vielleicht, als er sich auf den Weg machte, seinem Körper den Alkohol zu entziehen. Und weil ich schon einmal damit begonnen hatte, das Bild zu verfeinern, zeichnete ich in Worten weitere Substanzen auf das Papier, Unsichtbares oder Mögliches. Einen Schuh notierte ich westwärts: Hier flüchtet Jan Gabriel, weil sie Mr. Lowrys Liebe nicht länger glauben konnte. Da lag ein Notizbuch im Schatten eines Baumes und ich sagte: Dieses Notizbuch wird Malcolm Lowry finden von Zeit zu Zeit, er wird es aufheben und mit zitternden Händen in seine Hosentasche stecken. Schon segelten fiebernde Wale über den East River, der zwischen zwei Häusern schimmerte, ein Schwarm irrer Bienen tropfte von einer Fensterbank, und da waren noch zwei Mädchen, barfuss, – oder trugen sie doch Strümpfe, doch Schuhe? – sie spielten Himmel und Hölle, ihre fröhlichen Stimmen. Ich gestehe, dass Daisy und Violet nicht damals, sondern in dieser letzten Stunde einer heiteren Arbeitsnacht ins Bild gekommen sind.

> particles

13. März 2009 17:12










Andreas Louis Seyerlein

~

2.15 – Gestern Abend, während ich Strukturen einer menschlichen Hand studierte, hab ich die Zeit aus den Augen verloren. Anstatt 22 Uhr, war es bereits sehr viel später geworden und ich hatte noch nichts Warmes gegessen, gleichwohl noch nicht nachgedacht über letzte Fotografien wie vorgenommen, über Lichtbilder, was sie bedeuten und wie ich eine dieser letzten Aufnahmen eines Menschen für mich entdecken und gestalten sollte, damit sie als authentisch betrachtet werden kann. Ich habe mir also überlegt, dass ich zwei kleine Stunden zusätzlichen Lebens rückwärts erfinden könnte, wenn ich mir schon Schiffe und Bäume auszudenken vermag in einer Weise, dass ich sie Tuten und Rauschen höre, warum dann nicht zwei oder drei Stunden Zeit für Arbeit vor der Nacht. Und so war plötzlich wieder früher Abend geworden. Ich räumte meine anatomischen Atlanten aus dem Weg, spazierte in die Küche, bereitete mir eine halbe Ente zu und fing an, über das Fotografieren nachzudenken. stop. Whiteout. stop. Alle Welt, auch die letzten Dinge sind zu farbigen Pixeln geworden. stop. Existieren in diesem Moment noch Menschen auf unserem Planeten, die während ihres Lebens niemals auf einer Fotografie abgebildet sein werden? stop. Wer endlich verhaftet Robert Mugabe?

bridge

> particles

28. Februar 2009 21:01










Hartmut Abendschein

Beim Münchner Micha

Draussen tobt die Normalität. Mit dem Münchner Micha feste in der Innenstadt getrunken. Dann ins Fraunhofer, x-cess, Trachtenvogel. Wir stellen fest, dass wir Publikum und Interieur nicht mehr sortieren können, weil … sich alles verändert hat? Oder weil: wir dafür keine Begriffe mehr haben? Oder weil: s. Satz 2? Jedenfalls hat der Micha vor kurzem seine Armbanduhr verloren. Und ich rate ihm vom Kauf einer Neuen ab. Wir diskutieren eine kleine Philosophie der Uhrenlosigkeit.

Und verkrachen uns beinahe daran. Renitenzerhaltungsenergiekopplungen. Subjektivzeitakkumulationsfragen, Signifikation und Symbolisierung durch Leerstelle. Dies zählt alles nichts. Ich versuche die Punkte noch einmal am nächsten Tag zusammenzutragen. Es sind nur noch wenige da.

P.S.: Der Münchner Micha ist jetzt auf löslichen Kaffee umgestiegen. Aber Fair Trade. Und Bio, wie er sagt. Das dürfen auch alle wissen.

2 Jahre habe ich den Micha nicht besucht. Seitdem hat sich viel getan. Er ist mit Partnerin umgezogen. Auf der Toilette gibt es nichts mehr zu lesen. Ich frage ihn, was los sei. Bologna? Er antwortet nicht und legt das Programmmagazin „in“ neben eine Rollenburg. Nach meiner Abreise wird dort sicher wieder nichts liegen.

(Wir beschliessen aber: Ein Museum der Handgriffe muss gegründet werden. Und: vielleicht ist das Schreiben aber auch nur … professionalisierte Innerlichkeit.)

Notstromprobe am Karl-Preis-Platz. Rolltreppenprobleme. Schnellstmögliche Behebungen. (Micha hat sich eine neue Uhr gekauft. Casio. Digital. Das Zwicken an Haut und Haar hat nicht unmittelbar mit dem Neuerwerb zu tun. Seien ganz normale Zeitschmerzen, erfährt man.)

Im Tollwood: „Man kann ja nie wissen, was alles so passiert“. – „Ja, passieren kann schnell was.“

Im Wassermann: Schwaben ohne Schwaben gegen Bayern ohne Bayern. Sprechen der Sprache ohne Sprache. Leichtes Weissbier (2.4 %). Lucio. Cacao. Und andere Bekannte. Alte Streitigkeiten werden überspielt. Stuttgart führt nach 45 Minuten 1:0. Nervöse bayrische Raucher vor der Tür. Alles friert.

Dann: 1:2 gegen die Gastgeber. Apathie. Lethargie. My mourning table, subsound Ländler. No a Weissbier, bittschön.

Dankschön, Micha.

(Auf der Heimfahrt im 4er, 3 St. Gallener Visagistinnen. Wie Oberflächenoptimierung? Wie Sonnenschutz? Wie Sonnung mit dunklem Teint? Welche Zeitschrift und wie lesen? Wie richtig Skifahren? Wie Taschenkaufen? Etwas ist zu teuer: Mama, Papa und Geburtstag fallen mit Weihnachten zusammen. Undsoweiter.)

(Überhaupt: Wohin man überall Dinge schrauben und stecken kann. Ohren, Nasen, Brauen, Lippen, Zungen, Zähne. Selbst im Häutchen (Name?) zwischen Oberkiefer/Schneidezähne und Oberlippe ist noch Platz für einzwei Ringe.)

[notula nova 26]

20. Februar 2009 09:25










Markus Stegmann

Walensee

Verfangst an Walensee genachtete
schriebst blinkt Paestum Lage
als Tochter Sturm verwehte
Tritte zittern griff und verfädelst
östlicher als Seeschwarz
Gegenruder langt
ein Finstersturz
Eis das Wasser Korn
verbodet ans Kinn
achterlich die Verfahrt
Motorschlag so kehrt
merzliche Last schneit
partizipiert das Minuten
senktrechter als Firn
schüttet kolossale
Geburt

16. Februar 2009 22:38