Gerald Koll

Vertraute Fremde

Auf einer Bank liegt ein 48-jähriger Architekt. Nach einem Schwindelanfall ist er als 14-jähriger in der Vergangenheit erwacht. Er ist ein Mann im Leib des Knaben. Er denkt:

„Wie hoch der Himmel war …
Trotzdem hatte ich das Gefühl, die träge dahinziehenden Wolken seien zum Greifen nah. Der Himmel war doch etwas wunderbares …
Er stand über der Zeit und war immer da.
Wenn man von Ewigkeit sprach, konnte man genauso gut von ihm sprechen …“

„Wahrscheinlich wurde niemand jemals erwachsen …
Denn tief im Herzen bewahrte sich wohl jeder das eigene Kind, das immer weiterexistierte …
Genau wie der Himmel …
Die Zeit ließ die Menschen nur so tun, als würden sie erwachsen werden …
Und die Fesseln des sogenannten „Wachstums“ drängten das kindlich freie Herz immer weiter zurück.
Jetzt … da ich ein zweites Mal als 14-jähriger leben durfte, hatte ich das Gefühl, alles, was ich bisher übersehen hatte, deutlich vor mir zu sehen.“

(Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde. (1997) Carlsen Verlag, Hamburg 2007, S. 174/175.)

21. Mai 2010 18:34