Sylvia Geist

Wiederfund (12): Das Geheimis des Struwwelpeters

„Ungezogenheit ist der Verdruß des Kindes darüber, daß es nicht zaubern kann. Seine erste Erfahrung der Welt ist nicht, daß die Erwachsenen stärker (sind), sondern daß es nicht zaubern kann.
(…)
Das Geheimnis des Struwwelpeters: Diese Kinder sind alle nur ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt, darum ist das Kind, das ihn liest, artig, weil es schon auf der ersten Seite so viel geschenkt bekommt. Ein kleiner Geschenkregen fällt da vom dunklen Nachthimmel. So regnet es unaufhörlich in Kinderwelten. In Schleiern, wie Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind muss Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder fortfliegen. Das ist das Geheimnis des Struwwelpeters.“

aus: Walter Benjamin – Über Haschisch. Mit einer Einleitung von Hermann Schweppenhäuser

Das Geheimnis des Struwwelpeters ist eines aus einer Reihe von Geheimnissen, die sich Benjamin während seiner Rauschexperimente zeigten. In einem der Experimente dieser „Vorschule der profanen Erleuchtung“ (Schweppenhäuser) begegnete er auch einem sie alle einigenden Geheimnis der Wahrnehmung, als ihm ein verschleiertes Gesicht erschien, „das selber nur Schleier ist – das ist viel zu himmlisch, um weiter darüber zu reden“. Das hat etwas Eleusisches: der Schleier hebt sich sozusagen in dem Moment vom Geheimnis, in dem der Schleiercharakter des Offenbarten hervortritt. Fritz Fränkel, der mehrere Rauschexperimente Benjamins protokollierte, schrieb dazu: „Es ist für den Haschischrausch ein ebenso gewöhnlicher wie charakteristischer Vorgang, daß das Sprechen mit einer Art Resignation verbunden ist, daß der Berauschte schon darauf verzichtet, auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daß er sich bemüht, etwas Beiläufiges, Unernstes an der Stelle des Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen…, daß – dies ist das Merkwürdige und der Aufklärung sehr Bedürftige – das gewissermaßen auf Abbruch Geäußerte weit merkwürdiger und tiefer sein mag als das, was dem Gemeinten entsprechen würde.“ Vielleicht ist das auch die Verbindung zwischen Imaginationszuständen des Haschischrauschs und solchen der Dichtung, oder der Verselbständigung von Sprache im poetischen Wahrnehmungsprozess, eine geistige Verfassung, die Benjamin gemeint haben könnte, als er vom Denken als von einem „eminenten Narkotikum“ sprach. Nach dem Geheimnis des Struwwelpeters ließe die poetische Wahrnehmung Geschenke regnen, die die Welt verschleiern und das Schleiergesicht der Dinge zeigen, Geschenke, ohne die man vielleicht „sterben oder fortfliegen“ würde wie die Kinder im Struwwelpeter.

18. Mai 2010 12:39