Gerald Koll

Zazen-Sesshin (14)

Reines Warten ist Folterqual, und niemand hielte es aus, sieben Jahre oder auch nur sieben Tage lang dazusitzen oder auf und ab zu gehen und zu warten, wie eine Stunde lang zu tun man wohl in die Lage gerät. In größerem und großem Maßstabe kann das darum nicht vorkommen, weil dabei das Warten dermaßen verlängert und verdünnt, zugleich aber so stark mit Leben versetzt wird, dass es für lange Zeitstrecken überhaupt der Vergessenheit anheimfällt, das heißt, ins Unterste der Seele zurücktritt und nicht mehr gewusst wird. Darum mag eine halbe Stunde reinen und bloßen Wartens grässlicher sein und eine grausamere Geduldsprobe als ein Wartenmüssen, das in das Leben von sieben Jahren eingehüllt ist. Ein nah Erwartetes übt, eben vermöge seiner Nähe, auf unsere Geduld einen viel schärferen und unmittelbareren Reiz aus als das Ferne, es verwandelt sie in nerven- und muskelzerrende Ungeduld und macht Kranke aus uns, die buchstäblich mit ihren Gliedern nicht wissen, wohin, während ein Warten auf lange Sicht uns in Ruhe lässt (…).

Auszug aus Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 1. Buch: Die Geschichten Jaakobs, 5. Hauptstück: In Labans Diensten, Kapitel: Von langer Wartezeit.

15. April 2012 17:45