Gerald Koll

Zazen-Sesshin (22)

„Ganz im Ernst, Frau {Vorname}!“ schimpft der namenlose Mönch und ist drauf und dran, das Sesshin unter Protest zu verlassen. Soeben hat sich eine Zen-Sation ereignet, und zwar so: Frau {Vorname} saß, wie alle, in Erwartung der Speise. Dem Ritual gemäß hatte der Servierende den Deckel des Topfes abgehoben, den Schöpflöffel in den zähen Brei getaucht, das Tablett gehoben, sich gewendet zum namenlosen Mönch und Frau {Vorname}. Er beugte sich vor mit langarmig vorgestrecktem Tablett, damit nichts Menschliches in den Topf tropfe, kniete nieder, empfing mit nach oben weisender Handfläche die Schale des Mönchs, füllte sie, reichte sie, empfing die Schale der Frau Vorname, füllte sie, reichte sie, empfing von Frau {Vorname} eine zweite Schale, füllte sie …

Da aber hält es den namenlosen Mönch nicht länger: Drei Schalen? Drei? Zwei Schalen seien zu bedienen, höchstens!, auf keinen Fall aber drei! Es sei, sucht Frau {Vorname} zu beschwichtigen, ja nur die Schale des Servierenden selbst, die sie, als dessen Nachbarin, der Einfachheit halber als dritte Schale gereicht habe, damit der Servierende sich nicht, um die eigene Schale zu füllen, ein weiteres Mal extra verbeugen und bücken müsse. „Frau {Vorname}!“ poltert der namenlose Mönch, „Ganz im Ernst ! Vorhin wurden sogar vier Personen bedient! Das geht nicht!“ Frau {Vorname} bleibt freundlich und unbeirrt, sie kann sich auf Gesehenes verlassen: „Nein, immer nur zwei.“ Der wütende Mönch wird rot vor Wut: „Ich habe das doch selbst gesehen! Ich will nichts mehr essen!“ Schon ist er auf, zittern Dielen, weht Luft herein. „Das ist doch kein Debattierclub!“ Und schlägt die Türe hinter sich zu.

Beklommen setzt der Servierende die Speisung fort. Beklommen empfangen Sitzende die Speise. Beklommen speisen sie. Noch aber ist die Katastrophe nicht abgewendet. Nach vollbrachter Speisung hebt der inoffizielle Adlatus des abwesenden namenlosen Mönchs an zu einem begütigenden Wort. Er ist besorgt. Er will Beklommenheit dämpfen. Vielleicht hat der Adlatus im Sinn, den Servierenden in Schutz zu nehmen, der ja niemals vier Personen gleichzeitig bedient hatte. Vielleicht will der Adlatus richtig stellen, dass es ein Missverständnis war, das zwischen den namenlosen Mönch und Frau {Vorname} getreten war, denn beide sprachen von unterschiedlichen Personen: ein anderer Servierender war es, der in der Vergangenheit tatsächlich einmal vier Personen bedient hatte. Vielleicht möchte der Adlatus Frau {Vorname} in Schutz nehmen, deren Fürsorge menschlich zu ehren sei. Vielleicht auch möchte der Adlatus den Meister entschuldigen und erklären, ja, womöglich will er ihn erklären! Noch vor Vollendung der ersten Silbe schneidet ihm ein anderer Sitzender stumm das Wort ab. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Es wäre das vorzeitige Ende des Sesshin gewesen, der Bruch. Ihr Wahnsinnigen!, denke ich, der Servierende, Ihr heillos Wahnsinnigen!

2. Juni 2012 15:38