Christine Langer

Zum Tod von Michael Hamburger – eine Interpretation eines seiner Gedichte.

Anläßlich seines 80. Geburtstages im Jahr 2004 wurde ein Geburtstagsprojekt verwirklicht – ein Buch, an dessen Übersetzung über vierzig Kollegen mitgewirkt haben. Michael Hamburger, 1924 in Berlin geboren, lebte seit 1933 in Suffolk. Seine Lyrik thematisiert vordergründig eher unscheinbare Wunder des Alltags, sei es das Beobachten von Libellen, Schleiereulen und Mauerschwalben oder die jährliche Ernte von Kürbissen und Pflaumen, deren Blau in Nuancen wahrgenommen wird. Das Betrachten der Wolken gehörte für Michael Hamburger, der es liebte, Bäume selbst zu pflanzen, zum Ritual eines gewöhnlichen Tages, und das Bestaunen selbst wird wie die „erdverhaftete“ Sinnlichkeit zum glückhaften Augenblick. Tiere, verschiedene Arten von Vögeln, das Land und das Wetter, Gewächse und viele Sorten von Blumen finden seine wache Aufmerksamkeit. Michael Hamburgers Kunst ist es, das flüchtig Gesehene zu bebildern, Verborgenes wird ganz unmittelbar entdeckt, die Gedichte wirken mit ihrer Nähe zum Dunklen und Tiefgründigen, zum Tod und zur Vergänglichkeit wahrhaftig.

Schwäne im Winter

Ist ihre lange Zeit als Paar zu Ende gegangen? Getrennt auf Weiden,
Weniger durch unsren Wassergraben als durch selbstgewählten
Abstand,
Gelassenheit, die in unsern Augen Gleichgültigkeit scheint:
Während sie, nicht zusammenkauernd, an niedrigen Kräutern und
Gräsern picken,
Wogt der langsame Hals, als könnte kein Reißzahn, kein Wetter
Auch nur die Seide kräuseln, die er trägt.
Für sie ist das Land eins, den ganzen Lauf des Bächleins entlang;
Fließen, allein beständig, wenn auch jetzt zu schnell,
Angeschwollen durch starke Regenfälle, um ihnen Nahrung zu geben.
Doch müssen ihre Hälse einander nicht begegnen,
Noch Blicke sich treffen, so fest sind sie gepaart.

Aus dem Englischen von Gerhard Falkner

Mit einer grundsätzlichen Frage beginnt dieses Gedicht. Woher kommt der Zweifel, gerade während der kalten Jahreszeit eine gefestigte Bindung in Frage zu stellen? Der angekündigte „Winter“ wird hier weniger als Jahreszeit, sondern eher als innere Verfassung geschildert. Aber ist der „selbstgewählte Abstand“ der beiden Schwäne als Zweifel an ihrer Bindung zu verstehen? Selbstbestimmung: Spielraum der Freiheit; oder sagt die menschliche Moral etwas anderes. Während die „Gelassenheit“, mit der sich jedes der beiden Tiere selbständig ernährt, beim Beobachter angenehme Assoziationen hervorruft, evoziert der Begriff „Gleichgültigkeit“ negative Vorstellungen. Stolz und erhaben wirkt der einzelne Schwan mit seinem langen, weich schimmernden, zierlichen Hals, als würde er mit aller Ruhe und Langsamkeit plötzlichen Bedrohungen trotzen. Allmählich erkennt der Betrachter mit Bewunderung die gelassene Ruhe der beiden Schwäne trotz ihrer äußerlichen Trennung. So leicht vermutet er deren Empfinden, so sorglos und frei im Einklang mit den Gegebenheiten der Natur. Die eigene Wahrnehmung jedoch bleibt subjektiv und an das Ich gebunden. Sie regt dazu an, Erahntes zu formulieren und geistige Parallelen zu finden. Wie erleichternd ist es, am Beispiel der Schwäne zu erkennen, daß die Gewißheit der Nähe des anderen weit hinausreicht – voller Vertrauen.

Michael Hamburger:
Unterhaltung mit der Muse des Alters
Gedichte
Hanser Verlag 2004 (geb., 191 S, EUR 16,90)

4. Februar 2009 21:07