„Oft geht er hinunter zum Garten, dort ist er für sich. Zwar heißt es, er habe durchaus rauh spielen können, doch oft zieht er sich zurück, und der Garten macht dem Kind die Flucht leicht. Nimm die Rike mit, ruft die Mutter. Manchmal gelingt es ihm, ohne die Schwester fortzukommen. Muß er Rike mitnehmen, zieht er sie in einem Wägelchen hinter sich her. Er spielt Pferd oder Reiter oder Postmeister. Er redet auf Rike ein, ohne eine Antwort zu erwarten. Irgend jemand wird damals schon festgestellt haben, daß er mundfertig sei. Einmal galoppiert er, dann wieder schleicht er, als sei er ein alter Mann. Die Leute kennen ihn alle, den Buben vom Gok, dem Bürgermeister.
(…) Er schlägt mit einem Stecken die hohen Halme, verbirgt sich hinter einer Uferweide, ruft wie ein Totenvogel, was die Rike ängstlich macht. Sei schtill, bleib hocke, i ben ja do.
Er ist da, erzählt Geschichten, legt sich auf den Rücken, phantasiert Wolkenfiguren, mitunter ist es so spannend, daß die kleine Schwester eine Weile zuhört. So liegt er oft. Erst sieht er nur den Himmel, dann „das Gebirg“, den Albtrauf, den Jusi, den Neuffen und die Teck, dann die Stadt, die Kirche auf dem Fels, darunter die verrutschte Zeile der Häuser, das Neckartor, die Brücke: von dort ist er gekommen.
An diese Tage wird er sich erinnern, vor allem, wenn er heimkommt, ratlos, „ohne Geschäft“, und es wird nicht die Heldenerinnerung sein, „da ich ein Knabe war“, sondern der Drang „heimzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind, / Dort zu besuchen das Land und die schönen Tale des Neckars-.“ „Törig red ich. Es ist die Freude.“
Die Freude? Etwas wiederzufinden (…), eine Umgebung und Menschen, die sein Gedächtnis fassen kann, auch wenn es das Kind anders erlebte.“
Er habe dieses Kind erfinden müssen, schreibt Peter Härtling*. Heute hätte man ein Bündel Fotografien, die Hölderlins und die Goks hätten sicher wie andere Familien ihre Chronik fotografiert. „Der Kleine, der Allerkleinste, da in der Ecke, das warst du. Und der Mann lacht und wundert sich der alten Mutter zuliebe“, stellt sich Härtling eine in die Jetztzeit gerückte Familienszene vor.
In seinem Bemühen, „auf Wirklichkeiten zu stoßen“, belichtet er jedes Bild doppelt: den Schweizer Hof zum Beispiel, den der Autor als Hölderlin-Schule kennt, ein Gebäude, das nicht mehr dem gleicht, was als „stattliches Anwesen, mit landwirtschaftlichen Gebäuden und Kellern“ beschrieben wird, den Grasgarten, zu dem er zwar den Weg kennt, „die Neckarsteige hinunter, doch schon das Tor ist nicht mehr da und auch die Brücke hat anders ausgesehen.“ Er hält sich beim Queren der Zeiten an Lektüren fest und baut den Brückenkopf auf die Differenz der Erfahrung: „Wenn er Entfernung denkt, denkt er sie anders als ich; er denkt sie als Wanderer, als Reiter, oder als Passagier einer Pferdekutsche.“
Es sind solche Momente der zugewandten Distanz, die jene der Annäherung glaubhaft machen und auch den Leser hineinfinden lassen in die vorgestellte Kindheit, die so anders gewesen sein muss, dass Attribute wie „strenger“, „gefährlicher“ oder auch „reicher“ wieder nur auf ihn, diesen heutigen Leser, verweisen. Wenn Härtling in seinem Bild des Jungen, den seine Familie vielleicht Fritz nannte, trotzdem auf Wirklichkeiten stößt, liegt das daran, dass es vieles gibt, das man sich in der eigenen, von dort aus gesehen anderen, Umgebung nur als unveränderlich vorstellen kann, Lebensäußerungen wie Freude oder deren zeitweiligen Begleiter Übermut etwa, und dann stellt sich ein, wovon man liest:
„Die Mutter sitzt an einem der Fenster zur Neckarsteige, es ist fast ein Hochsitz, und schaut hinunter auf die Häuser an der Stadtmauer, aufs Neckartor. Es gefällt ihr, wie die Ochsenfuhrwerke sich den Buckel hinaufmühen müssen. Sie kann die Rufe der Bauern hören, das Knattern der Räder auf den Steinen. Oft sitzt ihre Mutter, die Großmutter Heyn, bei ihr. Eine Magd stößt den Fritz in die Stube, er ist erhitzt und betreten, doch seine Augen triumphieren. Er habe Maikäfer auf die Mägde losgelassen. Die seien vor Angst außer sich gewesen und der Lausbub habe noch gejubelt. Die Großmutter will für einen Augenblick lachen, sie verbietet es sich, denn ihre Tochter bleibt ernst und tadelt den Buben: Du hast den merkwürdigsten Unfug im Kopf, kannst du es nicht bleiben lassen? Soll ich es dem Vater sagen? Er schüttelt den Kopf, erwidert: Sie dürfen mir nichts tun, es ist die Freude, ganz einfach die Freude.“
*“Hölderlin“, in: „Ein Schriftsteller schreibt ein Buch. Dichter über Dichter und Dichtung“, herausgegeben von Gerhard Köpf, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1984
10. Januar 2011 14:21