Mirko Bonné

Widerstände

6 – Farhad Showghi: „Die Stille war eine Hosentasche und keine Lüge und ist kurz da gewesen. Jetzt aber fahren Autos vorbei aus allen erdenkbaren Gründen, es legt sich ein Rauschen dazu, Kinder rufen und ich habe nur noch eine Hosentasche und eine Hand. Ich werfe einen Blick in den Himmel, ziehe einen Pullover an. Der Pullover hat die Wahl Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein. Wäre ich jetzt selbst Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont. Und ich frage mich, was aus der anderen Hand geworden ist. Hätte ich doch schon Wolke mit Birken auf Brücke an. Läge mir die Stille den Unterarm.“

*

2. Juni 2012 14:14










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (22)

„Ganz im Ernst, Frau {Vorname}!“ schimpft der namenlose Mönch und ist drauf und dran, das Sesshin unter Protest zu verlassen. Soeben hat sich eine Zen-Sation ereignet, und zwar so: Frau {Vorname} saß, wie alle, in Erwartung der Speise. Dem Ritual gemäß hatte der Servierende den Deckel des Topfes abgehoben, den Schöpflöffel in den zähen Brei getaucht, das Tablett gehoben, sich gewendet zum namenlosen Mönch und Frau {Vorname}. Er beugte sich vor mit langarmig vorgestrecktem Tablett, damit nichts Menschliches in den Topf tropfe, kniete nieder, empfing mit nach oben weisender Handfläche die Schale des Mönchs, füllte sie, reichte sie, empfing die Schale der Frau Vorname, füllte sie, reichte sie, empfing von Frau {Vorname} eine zweite Schale, füllte sie …

Da aber hält es den namenlosen Mönch nicht länger: Drei Schalen? Drei? Zwei Schalen seien zu bedienen, höchstens!, auf keinen Fall aber drei! Es sei, sucht Frau {Vorname} zu beschwichtigen, ja nur die Schale des Servierenden selbst, die sie, als dessen Nachbarin, der Einfachheit halber als dritte Schale gereicht habe, damit der Servierende sich nicht, um die eigene Schale zu füllen, ein weiteres Mal extra verbeugen und bücken müsse. „Frau {Vorname}!“ poltert der namenlose Mönch, „Ganz im Ernst ! Vorhin wurden sogar vier Personen bedient! Das geht nicht!“ Frau {Vorname} bleibt freundlich und unbeirrt, sie kann sich auf Gesehenes verlassen: „Nein, immer nur zwei.“ Der wütende Mönch wird rot vor Wut: „Ich habe das doch selbst gesehen! Ich will nichts mehr essen!“ Schon ist er auf, zittern Dielen, weht Luft herein. „Das ist doch kein Debattierclub!“ Und schlägt die Türe hinter sich zu.

Beklommen setzt der Servierende die Speisung fort. Beklommen empfangen Sitzende die Speise. Beklommen speisen sie. Noch aber ist die Katastrophe nicht abgewendet. Nach vollbrachter Speisung hebt der inoffizielle Adlatus des abwesenden namenlosen Mönchs an zu einem begütigenden Wort. Er ist besorgt. Er will Beklommenheit dämpfen. Vielleicht hat der Adlatus im Sinn, den Servierenden in Schutz zu nehmen, der ja niemals vier Personen gleichzeitig bedient hatte. Vielleicht will der Adlatus richtig stellen, dass es ein Missverständnis war, das zwischen den namenlosen Mönch und Frau {Vorname} getreten war, denn beide sprachen von unterschiedlichen Personen: ein anderer Servierender war es, der in der Vergangenheit tatsächlich einmal vier Personen bedient hatte. Vielleicht möchte der Adlatus Frau {Vorname} in Schutz nehmen, deren Fürsorge menschlich zu ehren sei. Vielleicht auch möchte der Adlatus den Meister entschuldigen und erklären, ja, womöglich will er ihn erklären! Noch vor Vollendung der ersten Silbe schneidet ihm ein anderer Sitzender stumm das Wort ab. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Es wäre das vorzeitige Ende des Sesshin gewesen, der Bruch. Ihr Wahnsinnigen!, denke ich, der Servierende, Ihr heillos Wahnsinnigen!

2. Juni 2012 15:38










Hendrik Rost

iDiot

Das Monster lebt ganz sicher nicht mehr. So nannten wir den Mann mit dem Kehlkopfkrebs, der auf unserer Station lag. Sein Hals war eine große offene Wunde, die auf ein Lätzchen nässte, das er um den Nacken trug. Wenn wir im Fernsehzimmer saßen und er heranschlürfte, um zu rauchen!, flohen wir aus dem Raum. Der Anblick war unerträglich: ein Sterbender, der sich die Kippe direkt an ein Loch im Kehlkopf hielt und keuchend inhalierte.
Wir lagen zu sechst im Zimmer. Auf unsere Station gab es nur Patienten mit Problemen vom Hals an aufwärts. Die Ärzte waren alle plastische Chirurgen, auf Rekonstruktion spezialisiert, die zugleich Zahnärzte waren. Keiner von uns war aus kosmetischen Gründen hier. Im Bett neben mir lag ein Mann mit zertrümmertem Kiefer. Er hatte beim Fußball ein Knie ins Gesicht bekommen. Seine Frau brachte ihm jeden Tag stumm und treu Suppe, eine köstliche, pürierte orientalische rote Linsensuppe, von der auch wir anderen kosten durften. Sie ging leicht durch den Stromhalm, mit dem wir unsere Nahrung aufschlürften. Vom Krankenhaus bekamen wir meist Pudding, ganze Karaffen voll. Nur die Schmerzmittel dämpften den Hunger etwas.
Bei sechs Leuten mit verdrahtetem Kiefer im Zimmer klingt es wie in einem Bienenstock, ein ständiges Nuscheln oder Gesumme. Das heißt, wir waren nur fünf. Der andere Patient hatte einen Tumor hinterm Ohr, und er war der einzige, der normal essen durfte. Wir möchten ihn nicht, und seine Mahlzeiten waren begleitet von unseren gierigen Blicken und der schlürfenden Stille, wenn der Pudding durch die Halme gezogen wurde. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, den Halbliterbecher Kefir, den seine Frau ihm jeden Tag brachte und den er zu jeder Mahlzeit trank, ausgiebig zu schütteln. Das war sein Ritual.
Einmal öffnete sein Bettnachbar den Aludeckel nur ein kleines Stück und bog das Blech zurück, so dass der Becher ungeöffnet aussah. Der Esser nahm den Becher hob an zu schütteln und spritzte sich von oben bis unten voll mit Kefir. Wir lachten verdruckst durch die Drähte – und er war einfach nur perplex, wie hatte er nur vergessen können, den Deckel schon geöffnet zu haben.
Sein Bettnachbar, unser Krankenzimmerclown mit Turbanverband, hatte sich bei einer Motorradfahrt in Thailand den Schädel, alle Kiefer, das Jochbein, die Hand und noch etwas gebrochen. Er war bekifft nachts ohne Helm unterwegs, musste einem Lkw ausweichen und kollidierte mit einer Palme. Sein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen und transportfähig war er keineswegs. Aber er kaufte sich ein entsprechendes Attest und flog mit den kaputten Knochen nach Hause, weil er, so sagte er, in Thailand so oder so gestorben wäre im Krankenhaus. Er wurde mit einem Schlauch durch die Nasenlöcher ernährt. Manchmal bat er mich, seine Pfeife zu halten, damit er trotz der verbundenen Hand Gras rauchen konnte. Bier goss er sich im Waschraum durch einen Trichter in die Nase. Ich weiß nicht, wie er noch leben könnte.
Einmal schlich ich mich abends aus der Klinik und machte einen Spaziergang im Park. Ich ging und hörte ein leises Klacken, das mich begleitete. Ich drehte mich um, niemand da. Kein Steinchen im Profil der Sohle. Nach einer Weile merkte ich, woher das Geräusch kam, und es lief mir kalt den Rücken herunter. Ganz leicht stießen bei jedem Schritt die losen Unterkieferstücke gegen den Oberkiefer. Es waren meine Zähne, die mir dumpf und haltlos im Munde klapperten. Ich war nichts als mein eigenes Gespenst, das um die Häuser zog.

8. Juni 2012 09:25










Andreas H. Drescher

DER GEHEIME VERWIRRUNGSRAT

 

Der Geheime Verwirrungsrat ist

ein ganz ausgezeichneter Beamter

Unter dem Schreibtisch her

verkauft er seine Stempel an

dich und dich und wieder dich

Wer einen solchen Stempel hat

dem zieht er in die Hände und

kommt bald in der Augenfarbe

wieder als die immer rechte

deines aufgefrischten Blicks

 

Ja

seine Stempel kennen sogar

Kissen

 

8. Juni 2012 09:46










Mirko Bonné

Schilder

Lass uns langsam die Tage zählen,
die zu zählen bleiben.
Du deine bei den Tieren,
den Schildern,
die du ihren Namen gemalt hast,
Glanzstare, ich
zähle die Tage der Namen,
von allen Robinien herausgerufen
und flüsternd im Gras.
Die Bücher und ich,
wir haben sie übersetzt
für dich bei deinen Schildern.

*

8. Juni 2012 10:47










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (23)

Der Blick hat sich wieder verbohrt in die Dielen: Dünen aus Sand rollen auf beiden Seiten einer Schlucht. Im tiefen Graben der Fluss. Im tiefen Graben des Sitzfleischs schaufelt das stehende Sitzkissenrad. Beichten, beichten! Gefälschte Neigungen, gestohlene Stunden, so Vieles gibt es abzubüßen. Das rektale Purgatorium wird ohnehin vollstreckt. Könnte man es nicht verrechnen mit eilig nachgeschobenen Geständnissen? Ein Garten liebäugelt hinter einem Rokokotor aus efeuberanktem Gestänge. Es regnet an diesem 29. Nachmittag im Dezember, jeden Tropfen kann man hören, als würde jeder einzelne mit spitzen Fingern auf die heiße Platte meines Kopfes geschnipst.

10. Juni 2012 14:32










Mirko Bonné

Willkommen, neuer Fisch!

Nach langer Zeit, liebe Leserin und lieber Leser, kann DER GOLDENE FISCH Zuwachs vermelden. Ich freue mich, die 1980 in Mannheim geborene Lyrikerin Carolin Callies in den Schwarm einladen zu können. Ihre Gedichte klingen nach Konkreter Poesie, vielleicht Wiener Schule, doch sind bei genauerem Lesen und Hinhören ganz neu und anders, voller Verweise auf Erinnerungen und Sinnlichkeit, dabei stets dialogisch und deshalb von fruchtbaren Zweifeln und verblüffendem Witz getragen. So Carolin Callies‚ „kopien vom mähen“:

du hast kopien vom mähen gemacht,
ordnungsfanaktiker, der du bist
& hast mir dabei schwierigkeiten eingehandelt:
sie handeln von obst & unbeholfenen orten,

die teilten wir in beschnittne gebiete – durch linien, blau & rot & anämisch gleich.
da blieb nicht viel, nicht viel an belohnenden ressourcen.
bis hierhin: wenns noch langweiliger wäre, schnitten wir es einfach raus
& fädelten es neu auf – als koordinaten in den halmen.

Ich freue mich sehr, Dich bei den Fischen zu wissen. Herzlich willkommen, Carolin!

*

11. Juni 2012 13:13










Sylvia Geist

Aus Milas Garten

Viermal haben wir uns getroffen. Ich habe mehrmals nachgezaehlt, weil es mir schwerfiel zu glauben, dass es nicht oefter war. Zuletzt sahen wir uns im vergangenen Oktober in Edenkoben, und es war wieder, als machte die Zeit einen kleinen Bogen um die Momente, die wir zusammen am Tisch sassen. Sie schaelte einen Apfel aus dem Garten hinterm Haus, und die sternfoermige Anordnung, in der sie die Schnitze auf einen Teller legte, erinnerte mich an ein Kindheitsgefuehl, eine Textur aus Geborgenheit und Geheimnis. Ob auch der Kuerbis, den sie mir spaeter schenkte, aus dem Garten stammte oder aber vom Markt, weiss ich nicht mehr, wahrscheinlich fragte ich gar nicht erst danach. Irgendwie ging ich davon aus, dass sie sich dieses Edenkobener Gartens laengst angenommen hatte, so dass dort nun mit allem Moeglichen zu rechnen war, auch mit Kuerbissen.
Der Garten ist Mila Haugovás Ort, Topos vieler ihrer Gedichte, das fruchtbare Hinterland ihrer Sprache, ihr „Traum von der Form“, wie sie in ihrem Zyklus „Der geschlossene Garten (der Sprache)“ schrieb. Geschlossen, wie eben ein Garten ist, eine Anlage, durch einen Zaun von der Strasse getrennt, von Hecken, Buschwerk und Nesseln geschuetzt, mit verletzlichen Grenzen zwischen den Nutz- und Blumenbeeten, zwischen Wegen und Wiesengrund, aber offen, ja gastlich fuer den Leser.
Heute ist Milas 70. Geburtstag. Ihr Garten waechst und ist voller Gaeste.

Mila Haugová

Garten: bedrohtes Nest
voller zarter soeben abgestreifter Eidechsenhaeute
im heissen Schatten gleitest du in mich
und nimmst mich samt der ganzen Insel.
unsere Koerper entfernen sich von der Sonne
weisser Trajekt Nadelkleid Lehm
die Eidechsenhaut trage ich mit mir.
ohne Koerper kann ich nicht gut sehen.
wir sagen Zuhause zu einem fremden Ort.

15.6.2000
(deutsch von Angela Repka)

14. Juni 2012 05:44










Hans Thill

Mila Haugova

Mila Haugova in Bratislava

14. Juni 2012 08:00










Hans Thill

Der Partisan Wiese

verschwindet in seinem Fleckchen zwischen Halmen, wo es kein frisches
Hemd gibt, keinen Frisör. Anderswo macht die glatte Donau ein Knie,
hier braucht es runde Leute, während die Panonische Ebene flache
Kämpfer bevorzugt. Das Hasental

kennt nicht einmal den Rasenpartisan. Hier spricht man feucht die Worte
wie ein Stück Fleisch, ein Wurm, den die Amsel aus der Krume zieht. Hier
näht die Norne einen Knopf am Jeanshemd fest. Partisan Wiese trägt seinen
Namen kurz, fast einsilbig, dazu eine Krawatte

aus Moos, die ihre Fortsetzung findet in einer selbstgedrehten Zigarette. Seine
Religion ist Elfenbein und die Sichel der Sikarier. Frauen kochen ihm Essen,
stellen es auf eine morsche Platane, setzen den Wein hinzu auf einen Strunk,
die Wiese ist

mager. Frauen, très differentes des animaux. Kochen ihm einen Speierling
oder einen Schierling aus Pilzen. Er wohnt mit Hummeln in einem Baum,
er lebt in einem Topf mit Bienen. Die Deutschen haben seltsame Namen,
ihre Witwen leben von Abgüssen. Sie heißen

Ute Luchterhand oder Friedeburga oder Mechthild von Milch. Lieber sollten
sie heißen: Leuchthand, Käfergold und alle sollen bei Regen Platz finden
unter einem Fliegenpilz. Die Frisöre sollen singen: Love me Love me
und eine Amsel wird sie erhören.

Denn so ist das Gesetz der Wiese, festgenäht mit Fleisch und an die Halme
gebunden, es sind Gebote, schweigsam wie das Wort Gras. Das Blatt entrollt
sich und wird von Insekten eingerollt. Der Partisan spart das Gift. Er hat keine
Schlangenarmee

und eine Levitation der Wiese braucht auch andere Leute. Partisan Wiese
und Partisan Salzig verschwinden in einem Fleckchen Dornen, einem Tropfen
Donau. Die Kälte ist groß wie lange nicht mehr …

für Mila Haugova

14. Juni 2012 08:02










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (24)

Da wischte sie mit der Fläche ihrer rechten Hand so schnell über ihre linke, dass ein Geräusch entstand, als schleife sie und wetze sie, als schnitte sie dem Dienenden durch seine Stirn. Zu verstehen gab sie ihm, der vor ihr stand mit Topf und Kelle, es sei genug nun, er solle weiter seine Runde ziehen und den nächsten Gast bewirten. Läge ihr Löffel in der Schale, hieße es, sie verzichte ganz. Hätte sie zu wischen verzichtet, hätte er die Schale bis zum Rand gefüllt. Diese Zeichen waren verbindlich für den Umgang ohne Worte, denn stumm war das Sesshin. Nicht aber abgemacht war, wie man wischte, ob scharf, ob sanft, wenn man sich entschied zu wischen. Es gab Gäste, weibliche Japanerinnen, die so zart die Hände aneinander rieben, als wäre es ein Fächeln und ein Kosen. Und es gab ein Wischen, dass die Schneide schliff und dessen Klarheit sich mit einer Guillotine messen konnte. Dies war das Wischen einer Russin vom Ural.
Zerschnitten waren alle Bilder, die eben gerade in der Sitzung noch so deutlich schienen in der Innenschau nach außen. Eine Jakobsleiter war gestiegen aus dem Bodenholz, ein Weisheits-Dreieck war zu sehen, und Literatur stand so zitatenklar vor ihm wie selten. Vollständig memorierte er den Text der Seite 143 in dem Buch Bis in den Himmel: „Verzeih mir, Tomomi, ja…?“ sagt ein junger Mann, der in ausgetauschtem Körper vor seiner Tochter kniet. „Wuff Wuff Wuff“ bescheinigt ihm der Hund sein wahres Wesen, und das Blätterwerk sagt „Schhhhhhh“.

16. Juni 2012 20:24










Mirko Bonné

Als Belgien furchtbar war

Als es darum ging, etwas
zu sagen. Als wir hineinstarrten
in das Himbeergebüsch. Als keine,
keine Antwort kam. Als die Nacht
nicht aufhören wollte. Als sie
aufhörte ohne Klagen. Als
die Schmerzen nachließen,
als keiner mehr etwas wusste
gegen Schmerz. Als ich wieder nur
dich liebte. Als du mich fast vergaßt.
Als die Kirchen einstürzten. Als er starb,
der Elefant, der Angst hatte vor der Umsiedlung
nach Belgien. Als wir endlich verstanden,
warum. Als einer das Gras mähte.
Als das Gras weiterwuchs.

*

16. Juni 2012 23:24










Carolin Callies

zu fischen beginnen

fahrenheit, molen, die blanke & meer,
finister, das holzbrett &
chiemen & schlieren &
meterlang bergend, das fischwaide tau*

* Ein see, der friert sich zu,
dem mangelts an fischen,
die ahmen die kiemen
an unterständen nur nach

aus: „instant fisherman“

18. Juni 2012 21:09










Hans Thill

Das Gesetz der Wiese (Hombroich)

Die Vögel tragen die Schrift in ihren Gedärmen, Kerne der Gräser, die
in Kapseln wohnten. Der Jet pflügt das Feld des niederhängenden Himmels
über der Raketenstation. (Euander kam und hat das alles bracht, Buchstaben,
Pfeile aus jedem Holz). Aus den Gehäusen regt sich die bewegliche, digitale

Fingerschrift, unleserlich. Die Oberraben tragen die Schrift in ihrem
Gefieder über die niedrigen Bruchgefilde, Kletten, die sich klammern in der
Feberkälte. Jedem Kern das Kerlchen eingraviert (altfränkisch Kamerad)
als Bildnis im Gehäus, der celloblaue Mädchen sieht, Tiere der Wiese,

Pygmäenlatein. Die starren Beinchen der Wörter. An ihrem harigen Bauch
tragen die Vögel die raschen Milben. Aus der Tastatur kommen die Wörter
gekrochen, nachts, wenn der Fellow schläft. Das heiße Fleisch
der Wörter (Queneau) die Beinchen der Schrift, die sich von selber schreibt

in den Bildschirmnächten anderswo, da eine Einbeinleiter lehnt. Die Wiese
wächst. Den inneren Insekten Glauben schenken. Durchs Löwenmaul
geschaut und Staub und Stadt geworden. Hieronymos im falschen Rock
sät Rüben oder Raps, der Löwe passt auf den Esel auf. Er wurde nie

vom Sand gebissen, wie Pistenväter mit dem einen kalten Blatt.
Château des Pauvres (Éluard), die Armenkiste, Kloster der Schrift.
Pomo:na Norf Schlich und was noch alles. Watt. Nicht kothig sondern
weiß von Alter oder Schimmel (Soltau). Die Milben sind zurück

im Schlüsselbrett. Die Rehe am Cap Gris Nez trinken Beton aus der
Mischmaschine, es war nur ein knapper Frost, der Innenbienen und ihre
Beine schont. Die Hexenhasel besser nicht beschneiden. Die Wörter
sind mal Holz mal Stab mal Stachel in der Pfote? Das wußte nicht der

gelbe Archipluto, das wissen nicht Leiris und Ponge, nicht lockige
Propheten, von steifen Blättern als Gesetz zu lesen, schon gar nicht Donne,
gerastert nasalierend grau (»das Licht hat keine Zungen«). Das wissen
allenfalls die leisen Obelisken wie der Everest, in dem Raketen neben Pfeilen

Willkommen Carolin Callies!

18. Juni 2012 22:32










Hendrik Rost

Lautmalerei

Das ist ein Pingpongschläger,
das ist ein Tod.
Das ist ein Spielkamerad,
der sich in den Schädel schoss,
das ein Gesicht der Mutter,
in das ich nie mehr blickte,
ohne auf den Punkt zwischen
ihren Augen zu starren.
Das sind Falten dort und das
Geflecht, das sie bilden.
Das ist Intuition, die dort sitzt.
Das die Schnittstelle zum Kosmos.
Das ist es und nichts anderes.
Das ist ein Ping, das ein Pong.
Das ist kein Tod.

19. Juni 2012 07:57










Carsten Zimmermann

Seifenblasen-Sein

hauchfeine silbrige Echowände,
in die wir hineinschreien,
bis sie als jener kompakte Klumpen
erscheinen, der uns gewöhnlich
als Welt entnervt

19. Juni 2012 11:55










Carolin Callies

dem sommer einen text geben

sommer. ortens.

eins. es liegt wie brillen über der stadt.
grafgeschaftet & gehöft: bräsam ein lidschlag &
verschläge, die gähnen jalousielamellen & morgenfliegen.

gekämmt die felder, zwei. der mohn sämt deine tage ein.
eisenstege, flußgebande & die mündung, die reißt dich tief an.
torenes wars: bleich & äsende mundgespinste.

die farne, das lose gewinde & waschzuber, köpfern,
die liegen am nachmittag unterhölzern.
dein Gehen war ein grashalmiges. moosbroschürern war das. drei.

24. Juni 2012 10:27










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (25)

Nichts weiß der Sitzende zu dieser Zeit von Tanba, dem einsamsten Kämpfer der Welt, der eines Tages durch Nara geht, die liebliche Kaiserstadt, in der Touristen und freilaufende Rehe die Tempel bestaunen, während Tempel und Touristen die Rehe bestaunen und Tempel und Rehe die freilaufenden Touristen bestaunen. Nur an diesem Tag ist es anders, denn ein unwilliges Staunen allerseits gilt Tanba. Um ihn zu beschreiben, hieße es vielleicht, sich eine finstere Gebirgskette aus Muskeln vorzustellen. Tanba ragt über die Massen der Ströme von Menschen, die diesen Mitmenschen zu gewärtigen sich scheuen, in etwa so, wie man ein schwarzes, mit sich selbst beschäftigtes Loch nicht wahrnehmen mag. Jiro Taniguchi und Baku Yumemakura schrieben in ihrem Manga Wie hungrige Wölfe, dessen Text Tsuwame und Waldemar Kesler übersetzten: „Er zog vorbei wie eine Temperaturschwankung.“

Der Sitzende gewahrt zu seiner Zeit, um 19:20 Uhr des 29. Dezembertages, wenn der namenlose Mönch aus der Kälte in den ofenwarmen Keller im schneebedeckten Winkel Deutschlands tritt, einen schlechten Hauch. Es ist der Nachgeschmack der Mahlzeit, die Frau {Vorname} dem namenlosen Mönch verdarb. Noch jetzt wirkt er vergällt, wenn er allseits „um Nachsicht bittet“, etwas mitzuteilen, was er „für meine Pflicht“ halte – ob es die Damen und Herren interessiere oder nicht: Jedenfalls gäbe es im Mahayana, zu dem der Zen sich zähle, drei Schritte. Erstens: das Nicht-Festhalten. Zweitens das Nicht-Festhalten am Nicht-Festhalten. Drittens: sich davon kein Verständnis zu bilden. Das sei eigentlich schon alles. Man könne auch auf der ersten Stufe oder den ersten beiden Stufen stehen bleiben. Das aber sei die Meditationskrankheit, notiert der Sitzende, der im Luftzug seiner Niederschrift ahnt, im besten Fall der Krankheit zu erliegen.

24. Juni 2012 14:14










Mirko Bonné

Eine Levitation

Die jubelnde Frau
auf der Ehrentribüne,
in dem grasgrünen Kostüm
die Kanzlerin springt,
schwebt und hebt ab
hoch in die Luft,
ein Ball, Ballon,
ein Kohlkopfluft-
schiff über Toren,
dem Anstosspunkt,
Mittelkreis, Rasen
und dem Stadiondach
ins finstere Nichts
der Nacht und ist
in Sternbildern
und Starwolken
unbezahlbar
nirgendwo funkelnd,
nirgends mehr zu finden.

*

26. Juni 2012 13:52










Hans Thill

Kara Orman und ihre Schwestern

Wozu ist die Straße da, wenn das Wasser
doch in den See läuft? Und wozu gibt es das
 
Weiche g, den Tigergeruch in den Wäldern und das
Handwerk der Engel, da sie in der Kajüte über den Tannen
 
Orangen schälen? Die braunen Mädchen daselbst
(auf seidnem Boden) mit ihren großen Mündern tragen
 
Sie was vom Wasser blieb (die Poren des Wassers) in
die saure Zeit. Mad Mario Balotelli ist ein Fußballer.
 
Hem zenciyim hem albino. Er hat eine Frisur wie eine
Zahnbürste, die den Himmel teilt in Blau und Blau.
 
Die Steine nennen mich den Einheitisten, sie sagen zu
Mir: Quecksilber, Bavul deines Körpers und Yilan
 
Deines Körpers. Darüber lachen die Wälder, die Elster,
darüber lacht auch Günsür (der überall mit dabei ist).
 
Die Damen sind überall hübscher als nötig,
während eine Landkarte nur wenige schöne Stellen hat:
 
Den ruhigen See, tief wie eine Seele aus Tannen mit
Salznonnen drin und Meermädchen schwarz wie Feronia,
 
Kara Orman. Während mir der Fisch eine Gräte in den
Hals steckt, heisst das Pferd At und springt vielleicht
 
Über den weiblichen Wasserfall. Ich nehme mein Gesicht,
Gehe hinaus, ich habe einen Garten gefunden, mit
 
Händen an den Bäumen, darunter Kinder, die Erde essen.
Wir brauchen die Erde, wir brauchen die Straßen, weil
 
Rechts und links Wein wächst.

Begrüssungsgedicht für
Nevzat Çelik, Azad Ziya Eren, Gonca Özmen, Elif Sofya, Izzet Yasar, Sabine Küchler, Klaus Reichert, Joachim Sartorius, Silke Scheuermann, Henning Ziebritzki, Dilek Dizdar, Sebnem Bahadir.
Edenkoben 26.06.2012

28. Juni 2012 13:20










Andreas Louis Seyerlein

6.52 – Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollt ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U-Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop

> particles

28. Juni 2012 19:38










Sylvia Geist

Gewendetes Gelände

© Kai Geist

28. Juni 2012 20:53










Carolin Callies

dem sommer einen text geben, teil 2

Klatschmond sind die Ackerschnecken Halbwege,
das graue Heurad, zügiger als stillt der Sommer sich,
und schwirrt ins dunkle Licht.

Oswald Egger, Aus „Apfelspalten / Handteller, Regen.“

30. Juni 2012 13:22