Markus Stegmann

Matt

Ich lehne meinen Finger an die Wand.
Im Wind verschwinden die Fliegen.
Eine Perle liegt auf dem Tisch, aber wozu?
In der Wurst schläft der Wald der Menge.
Die Leerstelle trägt locker mein Geweih des Morgens.
Nur Papier ist zu sehen, aber keine Windschutzscheibe.
Wenn ich rechne, legt sich ein Mantel auf die Strasse.
Am Abend sah ich einmal ein halbes Gesicht.
Nur im Abgelegenen montiere ich weiter.
Eine Kelle zwar, aber keine Geduld.
Manche schwammen, aber keiner wollte bleiben.
Mit dem Gesicht geht es nicht mehr lange weiter.
Ich streife die Vorhänge im Krankenzimmer zur Seite.
Da ist ein kleiner Bleistift.
Ich ziehe ihn übers Papier.
Die Buchstaben kannte ich noch.
Viele zwar, aber keinen.
Am Tisch verlor sich das Gewicht.
Ich schleife ein wenig Holz.
Die Stangen heute Nachmittag sind matt.
Der Garten trägt sein Grün.
In der Wiese gibt es gläserne Stellen.
Es könnte Unkraut sein.
So steht es auf der Packung.
Der Karton liegt gut in der Hand.
Ich will die Anleitung nicht lesen.
Ich stelle die Wiese ins Regal.
Das Pulver sieht trocken aus heute.
Es ist ein anderer Faden als gestern.

6. August 2012 22:18










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (31)

Ich will mich sitzen lassen. Ich bin Krieg. Silben, Fragmente, Splitter und Schrapnelle schwirren durch vierzig mal sechzig Sekunden. Verschwunden, ehe sie Wort und Bild geworden. Vergraben in Verstecken im Ich-Gebüsch. Zerhacke Synapsen. Krämpfe. Keuche. Diese Schwere! Zu spät beziehen Traumabwehrraketen Stellung. Unkoordinierte Wortbildungsabbruchmanöver. Kaum ermüde ich im Wachposten, formieren sich Heckenschützen zu Bataillonen. Mobile Bildbrigaden verteidigen das Land, das ich verwüsten will um meines Friedens willen. Selbstvergewaltigt räume ich das Sitzschlachtfeld.

8. August 2012 13:47










Mirko Bonné

Olympiade

1-Meter-Lauf der Gartenkräuter

Zieleinlauf
Bahn 1: Pimpernelle (FRA) 5 Mon, 28 Tg, 17 h, 3 min, 26 sec
Bahn 2: Zitronenmelisse (DEN) 5 Mon, 27 Tg, 23 h, 23 min, 17 sec
Bahn 3: Schnittlauch (GER) 5 Mon, 28 Tg, 12 h, 25 min, 19 sec
Bahn 4: Kerbel (GB) 5 Mon, 27 Tg, 22 h, 58 min, 38 sec
Bahn 5: Bohnenkraut (RUS) 5 Mon, 27 Tg, 23 h, 15 min, 42 sec
Bahn 6: Petersilie (USA) 5 Mon, 29 Tg, 2 h, 5 min, 54 sec
Bahn 7: Thymian (GR) 5 Mon, 27 Tg, 22 h, 55 min, 3 sec
Bahn 8: Minze (ITA) 5 Mon, 29 Tg, 12 h, 3 min, 19 sec

Bronze: Bohnenkraut
Silber: Kerbel
Gold: Thymian

*

10. August 2012 21:29










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (32)

Man sage dem Zen, sagt der namenlose Mönch, wohl eine gewisse Strenge nach. Doch sei’s ja in Wahrheit forschende Liebe. Zen sei nicht so intensiv wie Kensho seinethalben, aber dennoch sei Zen mehr, als einfach da- und vor sich hinzusitzen. Wem die Nase pfeife, der möge das Gesicht sich reiben.
Habe jemand Angst? Wer Angst habe, habe sie gemacht. Wer der Welt mit Angst begegne, bereite ihr welche. Jede Angst existiere nur durch den, der sie habe. Eine Sache der Verantwortung für die Welt sei es, keine Angst vor ihr zu hegen, dass die Welt sich nicht sorge und verteidigen müsse gegen sich.

11. August 2012 07:53










Björn Kiehne

Märkische Seen

Es war viel Liebe in der Stadt –
ein Geruch über dem Asphalt
als gingen Gewitter nieder.

Wasserläufe unter den Plätzen –
ihre Wellen schlugen sanft
in den Endmoränensand.

Über den roten Dächern
stiegen Tauben auf –
Tau im Gefieder

und die Stille
märkischer
Seen.

12. August 2012 11:39










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 1

Hanns Grössel/José Maria de Heredia

Die Kentaurin

Dann kennt man das
und fragt: könnten wirs
gewesen sein? Froh wie Grössel,
größer als eine Hundertschaft, anfangs
Frösche in einem Teich, später viele
Pferde auf dem Plateau, Frauenköpfe
Caresse

La Centauresse

13. August 2012 23:35










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 2

Einst schweifte zahllos die Kentaurenschar

die Truppe wird geschoren oben im Parnass,
säuft zuvor die Gärten leer, die wir
für den Regen offen lassen. Wir
horchen an der Matratze unterm Dach,
den Schweif zu sehen, haben wir uns
die Ackererde über beide Ohren gezogen,
einst

Jadis, à travers bois, rocs, torrents et vallons

15. August 2012 07:06










Andreas H. Drescher

Poetosphäre

(Jogi gewidmet)

Ein Trost
dass dich das er
wartet Der neue Himmel den du ein
gezogen hast Ein Himmel dessen ABC du
nicht mehr nur ein D bist

Landdungssicher schwere
los findest du d
ich wieder Zugleich Helios Straßen
kehrer und entgrenzter Arzt d
er sphärischen Dreieinigkeit

Es war sehr gut sagst
du in deine Rein
form ein Der Tief
gang deiner Höhenluft als Gänse
haut

Konzertreif bist du dir ganz
ohne Arbeit Verstehen und Er
gänzen Leicht verschwindet alles was n
ich
t leicht ist

Höhen er
geben Geselligen Grüns die Gastl
ichkeit der Edelgase Luftigste Leidenschaft der Leere
Lehre aufgehoben Später Sommer Fledermäuse aufgehorcht Ins
piration

15. August 2012 07:32










Sylvia Geist

Gewendetes Gelände

© Kai Geist

16. August 2012 09:32










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 3

durch Bach und Wälder, über Fels und Schatten;

als es kaum Schatten gab, es sei
denn wir schliefen schräg in den Tag hinein, den
stolzen Wald. Mit Wanderstiefeln
traten wir den Bach, die Steine, wenn
die Bäume, bärtige Frauen, auf
uns niederschauten

Errait le fier troupeau des Centaures sans nombre ;

17. August 2012 16:04










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (33)

Das Servieren des Tees an die Wartenden erfolge, sagt der namenlose Mönch, aus dem inneren Kreis im Uhrzeigersinn. Daraus folge, dass der Servierende, sobald er einem Wartenden serviert habe, sich nach rechts wende. Die Wendung möge jedoch nicht sogleich und brüsk erfolgen. Ratsam sei es, erst einen Schritt zurück zu tun. Ein Schritt zurück bekunde Respekt. Der Seitwärtsschritt zum nächsten Wartenden möge wiederum kein Ausfallschritt sein, als vollführe der Servierende eine Kür, die es zu bestaunen gelte. Wichtig sei bei alledem, dass Natürlichkeit gewahrt bleibe.

Denn schließlich: ein Akt der Liebe sei es doch, und Stöcke warteten im Köcher.

Gut seien Stöcke, sagt nach zelebriertem Tee der namenlose Mönch mit Monopol zur Wortanwendung, um Gedanken zu vertreiben. Wer beim Meditieren in Gedanken verfiele, bekomme den Stock. Wer schlafe, bekomme den Stock. Wer sehr gut meditiere, bekomme ebenso den Stock, damit er noch besser meditiere. Doch in diesem Sesshin lasse er die Stöcke stecken, und mit dem Lächeln befriedeter Herzlichkeit grüßt der namenlose Mönch zur Nacht und sät einen Traum, in dem die Russin vom Ural einen starken Stock zückt und in unbedingtem Grimm eine bezwingende Attacke reitet.

21. August 2012 09:41










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 4

auf ihren Flanken spielten Licht und Schatten,

das Kino hieß Roxy oder Eden.
Ich kletterte und kroch die Wand, das rauhe
Fleisch, entlang, ich erbte
Arbeit, Heredia

Sur leurs flancs le soleil se jouait avec l’ombre ;

21. August 2012 13:37










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 5

zu unserm blonden kam ihr schwarzes Haar.

Mehl der Blondinen. Mischt man sich Haare
in die Mähne und bleibt der Teig zum Schluß nicht
in den Zähnen hängen?

Ils mêlaient leurs crins noirs parmi nos cheveux blonds.

23. August 2012 22:30










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (34)

Die Stille der gestrigen Teezeremonie macht empfindlich für Geräusche. Gurgeln, Tröpfeln, Platzen von Bläschen. Die Teezeremonie zelebriert Zunge, Bauch, Speichel und Drüse. Die Reizung des Zungengrunds löst den Schluckreflex aus, dessen Vorgänge sich dem Willen entziehen. Sechsundzwanzig Muskelpaare kooperieren, darunter die Ohrtrompete, bestehend aus Spannern und Hebern des Gaumensegels. Zusammen mit dem Schlundschnürer verhindert die Ohrtrompete das Eindringen des Nahrungsbolus in die Luftwege. Bei gleitendem Schluckvorgang beträgt die Passagezeit durch die Speiseröhre zwischen acht und zwanzig Sekunden. Falscher Wille führt nicht selten zu Schluckstörungen.

Bewundernswert bleibt die Formvollendung, mit der die teilnehmenden Japanerinnen es verstehen, den geschuldeten Dank für Tee und Keks in die Andeutung einer Nackenbeugung zu übersetzen. Sie platziert den Servierenden und die Bediente auf gleicher Ebene. Die feine Dosierung der zierlichen Beugung entbindet den Servierenden jeder Reaktion, signalisiert ihm gleichwohl die befriedigende Erfüllung seines Auftrags der Eingießung. Stümperhaft bleibt die Ausführung der Geste durch die Nicht-Angehörigen japanischer Kultur. Übertriebener Dank des Bedienten nötigt den Servierenden zur Erwiderung, untertriebener Dank entlässt ihn mit dem peinlichen Gefühl geleisteten Knechtsdienstes.

25. August 2012 20:20










Carolin Callies

vom logieren innerhalb eines fleischfarbenen lappens

vom körper geht ein kleiner ton aus:
du sammelst im mundliegnen becken eine gangbare menge an flüssigkeit,
die wieg ich unter pastellnen, unter pastengerbenden mundtastungen ab

& im gähnen trieft das dann.
damit ließe sich natürlich auch was verschicken:
ich tränkte es, frankierte es & schmeckte es süß ab.

doch alles, was ich wollte, war dich messingbeschlagen
& brunftbewunden,
aber mehr als ein gähnen ist nie draus geworden.

wenns im mund also nach etwas riecht:
nach einem wendwerk, einem kehlen, einer seifigen lösung – – –
die dir gelingenden formen aus speichel sind grotesk.

26. August 2012 14:30










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 6

Die Wiese blüht umsonst. Wir sind allein.

Das Gesetz der Wiese: sei Partisan, gehorche
nicht, stelle Gleichheit her. Die Weisheit der
Wiese heisst morgens blühen, abends einsam sein
(wenn die Tiere satt sind). Meine Arbeit war
der Schlaf. Ich kämpfte mit dem linken Finger

L’été fleurit en vain l’herbe. Nous la foulons

26. August 2012 17:37










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 7

Die Höhle liegt verwuchert und verlassen,

einen Wolf zum Engel nieder. Das Höhlenmaß,
zehntausend Zeiten (übern Daumen), die
Wildfrauen nicht mitgerechnet.
Sie tragen ihren Zollstock im Täschchen,
bleiben zurück bei ihrem irdenen
Geschirr

Seules. L’antre est désert que la broussaille encombre ;

29. August 2012 09:35










Hendrik Rost

Berechnung

Alles, was ich je wollte, war jemand,
der sagt, du kannst das. Du kannst
das Messer nehmen und seine kalte Schärfe.

Ich wollte die Streichhölzer einzeln anzünden,
die ganze Schachtel, eins, zwei, drei …
Du hast es mit Zahlen, auch das sollte jemand sagen.

Stattdessen war kaum zu unterscheiden,
ob ich mich schnitt oder ob ich blutete.
Was tat mehr weh, die Kruste abzuknibbeln

oder der Haut beim Vernarben zuzusehen?
Keiner sagte, du kannst viel aushalten.
Stattdessen: nicht so schlimm. Leben geht weiter.

30. August 2012 09:42