Gerald Koll

Zazen-Sesshin (35)

Jetzt ist es so weit. Jetzt ist es dahingekommen, dass der Teilnehmer des Sesshin in dummem Jubelschweigen dankbar ergeben die Bereitschaft des namenlosen Mönchs zur Entgegennahme eines Geschenkes empfängt und sich überschwemmt in Freude. Freude über den positiven Bescheid seines Antrags, dem seitens des namenlosen Mönchs die Ankündigung eines beim Teilnehmer bald eintreffenden, wiewohl etwas verspäteten Neujahrsgrußes vorausging. Und nicht nur die Einwilligung ist es, die im Lauffeuer

nun durch die Blutbahnen zischelt, sondern eher noch der so günstig ergriffene Moment der Antragstellung, gleichsam ersprossen aus der Rede des namenlosen Mönchs – und der Teilnehmer mag sich daran künftig lediglich in An- und Abführungszeichen erinnern: Man muss, auch wenn man

im Konzentrationslager ist, die Schönheit des Sonnenstrahls auf dem Gewehrlauf genießen. Äußerst zweifelhaft, prekär und heikel klang das nun schon wiederholt bemühte Wort des Konzentrationslagers in den Ohren des Teilnehmers. Gern hätte er darauf hingewiesen, es hätte

einer Überspitzung des Beispiels nicht bedurft, und auch das Wort vom Blatt auf dem Boden, das mit jedem Luftzug sich verändere und dem Staunen des Betrachters neue Rätsel aufgebe, hätte ihm vollauf genügt. Doch klüglich – und im Inneren bestrebt, das intensive Üben am Mitgefühl nicht zu vernachlässigen, verstummte sein Bedarf an Debatte, und er freute sich so sehr an der Schönheit des Sonnenstrahls auf der Nase des namenlosen Mönchs, dass er ihm ein Geschenk anzutragen sich spontan entschloss.

4. September 2012 01:44










Hendrik Rost

St. Pauli


Seid froh, dass es Gott gibt,
sagt die Vierjährige,
weil der auf die verlorenen
Kinder aufpasst.

Im Frühjahr sehen wir einen Buchfink,
aus dem Nest gefallen.
Kindlicher Rebell, zerzaust,
mit Glubschaugen, die um Hilfe betteln.

Was wird daraus?, fragt die Kleine.
Wir gehen weiter.
Nach ein paar Schritten zupft sie an meiner Hand.
Ich weiß, sagt sie. Das wird ein großer Vogel.

6. September 2012 14:46










Nikolai Vogel

Spam:

Heutzutage gibt es für jeden das passende Mittel

6. September 2012 20:36










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 8

und manchmal kann ich mich beim Zittern fassen,

und mach mal die Wiese zu einem Zopf
für jedes Wetter. Wer mich zitiert, nimmt sich
gleich den Mund voll Erde. Das Gras wächst überall,
blond, ein Flachs, das Laub kaufst du bei
Lidl, um es im Herbst zu streuen

Et parfois je me prends, dans la nuit chaude et sombre,

7. September 2012 10:38










Mirko Bonné

Die Bienen von Fuhlsbüttel

Über Nacht, so scheint es, über Nacht
sind alle Blüten gekommen. Die Bienen
schwärmen aus, sie fliegen, beschwingt
vom ersten dünnen Aprillicht über den
silbernen Rollbahnen. Wissen Bienen,
dass die schöne Saumseligkeit eine
vorgetäuschte ist?
mmmmm mmmmmFlughafenbienen!
Erhöhte Schadstoffbelastung der Luft
lässt sie in ihren Kästen bleiben, Licht,
Duft weitgereister Flugbegleiterinnen,
den Margeriten in Kübeln zum Trotz.
Fliegen die Bienen, fliegen Maschinen.
Über Nacht, so scheint es, über Nacht.

8. September 2012 05:19










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (36)


2011/12/30 19:14:06-19:14:35 Im namenlosen Garten

… und der Übermut ihn in seiner Übung überrollte und verführte, Visitenkarten auszutauschen! Unbesonnenes Zukunftszüngeln! Voreiliger Gegenwartsbeschluss! Wohin verrannte sich der Kippelnde in sturztrunkenem Vorgriff!

Fort, fort, schnell hinaus in den namenlosen Garten, hingelegt und hochgeschaut in die Lichtreflexe verglühter Vorvergangenheiten und Visiten abgestattet einer Zeit, die keiner Lebenden gewärtig war und meditierte in sich selbst … !

9. September 2012 11:23










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 9

wenn fern in heißer Nacht die Hengste schrein.

wir gingen also stundenlang unterm Mond
und hätten besser beieinander gelegen? Der Weg,
die heiße Naht, die Bäume hinter Stacheldraht,
geknüpft aus Wespen. Tannenhonig gegen
Zucker. In Baden-Baden landete Massu. Der
Adenauer war im Rhein ertrunken

À frémir à l’appel lointain des étalons.

10. September 2012 11:41










Carsten Zimmermann

berliner pyramide

selbst wenn man vom rand,
von den feldern her kommt,
ist dies eine fortsetzung.
weite versiegelte flächen,
von breiten bürgersteigen
der blick in die tiefe hinein.
wenige passanten befinden
sich hier in der gegend
nächst einem gläsernen dreieck,
das steil aufragend ein hochhaus
durchschneidet, 100 meter, es soll
wohl rapide gewinne beschwören.
kein toter pharao ruht hier, den
göttern gleich, nur der kapitalismus,
die comer group international,
die in immobilien macht. wegen
beachtlichen leerstands ist zusätzlich
ein kulturzentrum untergebracht.
was tun vor so einem monstrum,
als fußgänger, wehrlos und still,
als sehen, wie alles dies scheitert
vor einem zeitlosen himmel

11. September 2012 08:22










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (37)

Im namenlosen Garten schweben unterirdisch zwischen Fältelungen vieler Zeiten
vierdimensionale Spinnennetzkugeln, bewacht von einem namenlosen Mönch, der
die Gespinste bändigt. Das erste Seufzen nach dem Schweigen wird, sie wissen es,
ins Webwerk fahren wie ein Sturm, wird es zerreißen, wie sie wissen. Die Kugeln

könnten, wenn
sie wollten, sich
verständigen
auf einen Pakt:

des stummen Scheidens auf dass sich ihnen Gewebe erhielte
und es unbeschadet tragen ließe ins Dadraußen
wo die Spinnen weben als Wächter der Flächen
sind es siebzehn Stunden bis die dritte Dimension verschwindet

und zusammen
mit der vierten
verkürzt wird
auf die zweite

15. September 2012 11:44










Andreas H. Drescher

Im Garten

Der Kohlweißling über der Garage jetzt
in der ersten Bö des Herbstwinds Sein
Taumeln also nicht mehr nur von innen her

18. September 2012 18:43










Andreas Louis Seyerlein

6.45 – Vor zwei oder drei Monaten habe ich eine Geschichte gelesen, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten bei einem Erdbeben verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf die Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine sehr kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeultes Saxophon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. – stop

> particles

20. September 2012 18:24










Mirko Bonné

Wenn du mit deinem Duft

Wenn du mit deinem Duft zu mir kommst,
seh ich deine jungen Augen, seh in die Zeit
und fühle dich, wenn du mit deinem Duft
dich zu mir legst. Ich atme ihn und dich,
ein Glück, ich atme. Es kommt eine Zeit
ohne dich, und eine Zeit wird es geben
ohne mich für dich. Jetzt bist du da.

*

22. September 2012 16:53










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (38)

War einmal eine Bambusvase, begann der namenlose Mönch zu seinen Sassen. Von höchstem Wert, so der namenlose Mönch, sei das Gefäß gewesen, und so hoch sein Wert gewesen sei, so tief war die Bestürzung eines Gastes, der einen Sprung bemerkte. Beschämt kniete er vor dem Besitzer, den Makel zu nennen. Der aber sprach, im Sprung bestehe doch der Wert: Er besäße die einzige Vase, aus der Wasser fließe.

Wer dieser Gast gewesen sei, fragte sich blinzelnd der schweigende Sasse. Ein Entleiher oder ein Betrachter? Der Sasse sagte sich, ihm muss entgangen sein, ob der Sprung seit jeher in der Bambusvase gewesen und dem Bewunderer lediglich aufgefallen sei oder der Entleiher den Makel verschuldet habe. Und nicht ganz sicher war der Sasse, ob der namenlose Mönch den Teil übersprungen habe. Dem Mönch entging nichts.

24. September 2012 14:01










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (39)

Geknickt ist nur das Knie, geknicktes Knie, du bist ein Knie, sonst nichts.

Geknacktes Holz im Ofen, knack nur, Ofenholz, öffne dein Haar für mich.

Geknirsche in Gedärmen, windet euch, windjammert und segelt im Wind.

Denn wir Sassen fasten von Fettlebe, lauschen nach Gehölz und Geweide.

Wir Sassen, wir jauchzen im Schweigen, wir schwelgen in Brei und in Tee.

Freiwillig eingegeiselt weben wir Webstühle zu weiterer Sesshaftigkeit. Da

29. September 2012 18:15