Hans Thill

Haus der Silben

paraphe

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Die Paraphe
Dieser Mann unterschreibt mit Holz, was ihm Eisen und Papier einbrachten. Seine Kraft hat nichts leserliches, sein Name ist zackig wie ein beringtes Faß. Er lebte mit einer Wildfrau unter tiefen Tellern, bis er dann im Dorf die Goldstücke an die Bauern brachte. Wo andere noch säen, wird für ihn schon gemäht. Auf den Lichtungen die Wildfrauen, Hirschen reitend. Er hat jetzt also ein Dach und ein steinernes Herz. Keine Pferde in dieser Geschichte. Vom Hafer ein paar Körner, daher der Mangel an Kraft am Ende der Zeile.

29. Juli 2010 12:43










Hans Thill

Haus der Silben

silben5

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Das Gatter
und auch die hängenden Rauten einer Biergartenfahne. Semiramis, Zäune für Königinnen, Semiramis, im Donner geboren. Auch eine Statue möcht höflich appostrophiret sein. Drei Könige ritten zum Dorf hinaus, jeder ein Ringlein im Ohr. Und die schrägen Vierecke, Gitterzeichen einer Software, die Kreuzstöcke einer Nervenverbindung. Der erste findet das Brot, die Not, den Tod. Der zweite findet die Fremde. Der dritte das Töchterlein. Und auch die Formation der Soldaten, wenn sie stehen und beten. Der vierte König wurde mit Eisen gebrannt und in ein Faß gesteckt.

2. Juli 2010 18:06










Hans Thill

Mein Nam

mein Leich mon voyage mineur. Ein Wiedergänger sprüht
in kleiner Trance an alle Trafo-Stationen: Pas Op!

Verkehrter Kaffee und verirrter Wein steigen zu Kopp
und heissen beispielsweise Chloroform. In einem

weit entfernten Land hilft gegen wortverklebten Mund
Thalassa als ein Zungenlöser aus l und s. dar zamin

dur dast. Mein Nam mein Dotter eines Gottes ärmer
als die Nacht blau im Gesicht und für ein halbes

Sommerstück bin ich in Form: ein kahler Fall ein Overall
das Stresswort allemaal dem Anton Reiser hinters

Ohr geschrieben. Mein Nam meine Entgleisung mein
überall beseeltes immerzu rasiertes Pädonym

bin ich auch kein Korkenzieher wär ich doch gerne
eine Vogeluhr

Begrüßungsgedicht für
Dirk van Bastelaere, Eric Brogniet, Karel Logist, Els Moors, Erik Spinoy, Liliane Wouters, Gerhard Falkner, Zsuzsanna Gahse, Norbert Lange, Michael Speier, Ulrike Almut Sandig.
Edenkoben 23. Juni 2010

23. Juni 2010 15:59










Hans Thill

Haus der Silben

erschöpfter wagen

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Erschöpfter Wagen
Ein Behälter muss klare Linien haben und aus dickem Holz soll er sein, wenn man Steine damit fahren will. Man sieht es auf Bildern, die erstarrte Flüssigkeiten sind, historisch und grau, etwa aus der Vorstadt von Paris. Der Behälter schaut nicht nach oben, er bleibt bei sich und seinen Inhalten, die aber auch notwendig sind, andernfalls wäre der Behälter leer.

31. Mai 2010 12:22










Hans Thill

Haus der Silben

stein aus papier

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Stein aus Papier
Faul wie eine Spinne lag sie hinter Wänden, die so dünn waren, daß jeder zusah, wie sie ihren Tee schlürfte, oder beim Husten bauchte sich die Wand aus, ein atmendes Stück Stroh mit Lehm, vor Urzeiten gestampft, zu Zeiten geknetet, heute gesehen, morgen schon auf der Briefmarke. Das Silbenhaus. Do Mi Si La Do Re.

14. Mai 2010 10:02










Hans Thill

Haus der Silben

fachwerk2

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Der Turm
Daß die Kraft dich nicht verläßt, wenn es soweit ist. Daß du den Nagel findest für den letzten Hunger. Daß es noch ein Stückchen Land gibt, um es zu erschüttern. Du teilst die Wesen in Sie und Du, Flügel oder stumme Bodentruppen, die hinausfahren, wenn es soweit ist. Wenigstens ein Ruder sollten sie haben oder einen Mast. Wen wird man binden? Er hat Öl in den Ohren, das man in Lampen versauern ließ. Die Vögel packen den Wind in Säcke, man kennt das aus alten Quellen. Daß die Worte auf tönernen Füßen stehen, wenn es soweit ist. Daß sie dich rechtzeitig verlassen. Daß sie schnell sind wie Witze aus einem Bart. Es ist die alte Sacksprache, wir kennen sie von Fässern, erst zu öffnen, wenn es soweit ist.

13. April 2010 14:06










Hans Thill

Haus der Silben

fachwerk 1

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Die Agraffe
Das trockene Haus, das trockene Holz, das trockene Geld, der trockene Schuh. Sie trug verziertes Silber um den Hals, ein anderes Stück an ihren Fesseln. Einmal hat es geklingelt, alle haben es gehört, nur nicht die Ohren des Propheten. Der hatte ihr anfangs noch Spielzeug gebracht. Emily mit den fünf Religionen. Es war ein Akt der Nächstenliebe, ein Klingeln vor Verdurstenden. Auf Wunsch schrieb sie in einen Sand mit ihren Füßen einen gesagten Satz. Auf Wunsch zeigte sie eine Kerze noch im hohen Alter.

31. März 2010 10:23










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben5

Soviele Haare und keinen Kamm
Meine Großmutter mochte Katzen nur von vorn. Sie sagte: »Kiek mal, wie die ihren Po zeigt«, wenn eine Katze quer über den Weg rannte und im Gebüsch verschwand. Katzen huschten auch über die Gräber, vor denen meine Großmutter und ich auf einer Bank saßen. Hunde waren auf dem Friedhof nicht zu sehen, sie hätten die Totenruhe gestört. Meine Großmutter bewachte das Grab ihres Mannes und ich konnte die Steinchen des Kieswegs durch die Finger gleiten lassen. Sonntags machten meine beiden Schwestern und ich einen Spaziergang zum Grab des Großvaters, Beate sagte einen Satz, Gisela sang ihm einen Schlager vor, den sie der Haushaltshilfe abgelauscht hatte. Jetzt war unser Vater dabei, die Großmutter kochte das Mittagessen, damit unsere Mutter in die französische Messe gehen konnte. Oft gab es »junge Hunde mit Schoten«.
Auch mir wurden Schlager beigebracht, von der Großmutter. Wenn Gisela sang: »Cindy, o Cindy, Dein Herz muß traurig sein!«, dann konnte ich: »Justav, Justav, ärjere dich nicht« singen, oder: »Wenn in Berlin mal wat passiert, n oller Droschgenjaul krepiert«.
Meine Großmutter war nicht besonders tierlieb, sie war ein Berliner Gör und liebte Dialekte. Sie selbst hatte eine schlesische Großmutter gehabt, die unfreundliche Sätze hervorstieß, es waren immer dieselben zurechtweisenden Redensarten, die meine Großmutter nur sehr schwer aussprechen konnte. Sie sagte sie trotzdem gern und häufig. Es sind die ersten Rätsel meiner Kindheit. Sonntags, wenn sie das Schweinefilet in Rahmsosse (mit Kondensmilch) zubereitet hatte, das mit gemischtem Gemüse serviert wurde, heimlich verfeinert mit einer Prise Zucker und einem Stück Butter, sagte sie gern beim Anschneiden: »dröch assn Kattennoas«. Wieso sollten die »jungen Hunde« plötzlich trocken wie ein Katzenarsch sein? Damals hat es keinen von uns gestört. Hermeneutisches Denken war meiner Großmutter fremd. Ein Lacherfolg war ihr mehr wert, als die Hochachtung ihrer Umgebung. Das heißt nicht, daß sie ohne Stolz war. Wie bei fast allen Menschen gab es bei ihr auch ernste Phasen. Eine solche Stimmung war allerdings wie weggewischt, wenn sich die Gelegenheit für einen Witz bot, und sei sie noch so fernliegend. Natürlich lachte von uns schon lange keiner mehr über ihre skurillen Einfälle, seltsamen Benennungen. Aber man fand sie lustig. Wenn ich fragte: »Oma, was machst du für ein Gesicht, wenn du tot bist?«, blies sie die Backen auf und streckte die Zunge heraus. Das war undenkbar am sonntäglichen Mittagstisch. Der Kattennoas war die größtmögliche Abweichung von der gepflegten Atmosphäre eines festlichen Bratenessens.
Meine Großmutter hatte zahlreiche Freundinnen, alte Damen, Flüchtlinge wie sie. Wir besuchten Frau Rödder, eine schlesische Freundin, die ihr Gebiß in der Kaffeekanne aufbewahrte. Wir besuchten Frau Gloßmann, die unlängst noch schnell ein Foto von ihrem Mann gemacht hatte, als er tot im Bett lag. Solche Geheimnisse vermochte meine Großmutter nicht zu hüten. Sie machte uns Kinder auf die Eigenheiten ihrer Freundinnen aufmerksam, Friedhofsbekanntschaften. Frau Gloßmann war bemüht, immer möglichst vornehm zu formulieren. Der Straßenarbeiter dort vorn in der Grube war »ein Herr«. Herr Gloßmann war ihr »Gatte« gewesen. Als Schlesierin mied sie das i, um sicherzugehen. Sie sagte »Kürche«, »Tüsch«. Meine Großmutter sagte, sie macht einen »Mund wie nen Katzenpopo.« Bei der Gloßmann und der Röddern sprach meine Großmutter niemals Platt, sie hätten alles verstanden. Anders die alemannischen Eingeborenen unseres mittelbadischen Städtchens, die immer nur Nase verstanden. Oft wurde meine Großmutter auf der Straße begrüßt: »ach, da kommt ja die Berliner Oma!« Jetzt wurde viel gelacht. Was hat sie ihnen erzählt?
Ich habe nie herausgefunden, aus welchem der vielen niederdeutschen Dialekte all diese seltsam unschuldig-obszönen Katzenärsche stammten. Meine Großmutter hatte auch eine mecklenburgische Großmutter (wie ich noch eine elsässische Großmutter hatte), von der ebenfalls einige Sprüche überliefert sind. Wenn ich die Ellbogen aufstützte und mir die Ohren zuhielt (wir waren mittlerweile vier Kinder im »kleinen Zimmer«), sagte meine Großmutter zu meinen Geschwistern »kiek de kierl, Mecklenburger Wappen!« Heute weiß ich: ein Ochse mit ausladenden Hörnern. Damals wußte ich es nicht. Es gab nun auch Rätsel, die mich mehr beschäftigten als die Witze meiner Großmutter. Die großen Fragen der Heiligen Messe, die ich seit neustem als Schüler sonnntags besuchen mußte. Außerdem die Frage, wohin geht die Königin von Eschnapur in dem Lied von Hans Albers?
Später, als meine Großmutter lange tot war, ich hatte ein Studium in Heidelberg begonnen, gab es einen Kater in unserer Wohngemeinschaft. Es war ein schwarzes Tier. Er hatte das Fell einer Perserkatze, das heißt, es war zu dicht für seine nächtlichen Abenteuer. Der Refrain des Liedes von Hans Albers kam mir wieder in den Sinn: »Oh Signorina, -rina, -rina oh Signore, / soviele Haare und keinen Kamm.« Und ein weiterer Spruch meiner Großmutter, bei Friedhofspaziergängen beiläufig erwähnt: der ist schon so lange tot, der steht bald wieder auf. Der Kater wurde überfahren, er schlich sich mit einem Blasenriß in den Keller, wo wir ihn unter einem Regal fanden, lautlose Schreie ausstoßend und schwach. Als mein Vater gestorben war, mußte ich in einer ersten Zeit abends die Großmutter nachhause begleiten. Oft blieb sie im Dunkeln auf der Straße stehen und begann zu schreien. Zuhause sagte sie zu mir, Kindchen ich mach das Fenster auf und spring hinaus. In der Wohngemeinschaft war man schon in normalen Zeiten an dem Kater, den ein Renegat zurückgelassen hatte, nur mäßig interessiert. Normalerweise kümmerte sich Angelika um ihn, trennte die verfilzten Fellstücke mit der Nagelschere von seiner Haut. Jetzt fütterte sie ihn mit Leberstückchen, oder Lunge, die ein schaumiges Geräusch machte, wenn er hineinbiß. Die Großmutter ist nicht gesprungen, sie starb einen witzlosen Tod. Jahrelang wollte sie nicht einmal mehr Fernsehen. Sie saß in ihrem Zimmer und wartete auf die Dunkelheit. Als er wieder etwas zu Kräften gekommen war, fuhren wir den schwarzen Kater zum Arzt, der ihn gegen einen Zehner untersuchte. Er wird schon durchkommen, meinte er, oder auch nicht.

aus: Oleg Jurjew (Hg.), Das Buch Nero. Festschrift für einen Dienstkater. Heidelberg, Wunderhorn 2009.

12. Januar 2010 11:46










Hans Thill

Farai un vers

Ich mache einen Vers aus Zwanzig Zehn
nehme Zement und
viele Vögel ich nähe Zwillinge
aus Engeln zwing
Onkel Dante rein und ein Pfund Schnee

Je ferais un vers de vingt et dix prends
une valise un
dossier un jumau à coudre je prends
Monsieur Monstre avec
vingt autres anges de cinquante pourcent

I´ll make a verse of twenty ten
take glue for birds
and vowels making sense a twin to
hammer my Dandy
Dante with feet for Saints and teeth of tin

31. Dezember 2009 15:28










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben 4

Neros Größe war gerade normal, sein Körper fleckig und stinkend, sein Haar hellblond, sein Gesicht eher hübsch als anziehend, seine Augen blaugrau und beinahe kurzsichtig, sein Nacken dick, sein Bauch vorstehend, seine Beine äußerst dürr, seine Gesundheit robust.
Sueton, Nero

30. Dezember 2009 13:09