Hendrik Rost

Das innen Hohle

Mit der Einjährigen auf dem Arm trete ich aus der Terrassentür und öffne die Schlagläden. Über den Rasen stolziert ein Vogel. „Sieh, die Dohle“, sage ich, aber sie schaut nach oben und verfolgt mit dem Blick zwei Krähen, die sich über den kahlen Baumkronen jagen. „Krah“, sagt sie und ich sage „Ja, zwei Krähen“. Ich muss ihr nichts zeigen, weil sie es schon sieht, kann es nur so benennen, wie wir, die schon länger reden, es kennen.

6. April 2016 10:37










Christian Lorenz Müller

SO FRÜH IM APRIL (Ekstase in Haiku)

Grüne Fontäne
der Weide, ein Springbrunnen
so früh im April.

Leute auf Bänken
blicken mit geschlossenen
Augen zur Sonne.

Und der erste Rock:
Fallschirm aus dem Frühjahrsblau,
gelandet im Gras.

Die Fahrradfelgen
blitzen, silberne Sonnen,
eingespeichtes Licht.

Goldregenschauer
durchnässen uns. Wir wollen
nie wieder trocknen.

Und die Gardinen,
sie lecken aus den Fenstern,
so süß ist die Luft.

Die Hunde im Grün.
Das Gras erleuchtet ihre
Mäuler und Schnauzen.

Und acht Haikus lang
ein grüner Junge sein, grün
in dem grünen Gras.

4. April 2016 08:34










Andreas Louis Seyerlein

~

0.18 – Für sei­nen Sohn, der gerade fünf Jahre alt gewor­den ist, hat sich Gus­tav L. etwas Beson­de­res aus­ge­dacht. Er ist in den Kel­ler gestie­gen, um dem klei­nen Lukas einen Dra­chen zu bauen, ein Geschenk von eige­ner Hand. Im Kel­ler lager­ten Holz und Sei­den­pa­piere in rot und blau, und Schnüre, davon feine Sor­ten und etwas kräf­ti­gere Gewinde. Im Kel­ler waren außer­dem Werk­zeuge zu fin­den, Sägen, Fei­len, Häm­mer, Cognac, alles das, was man so braucht, einen wun­der­baren Flug­d­ra­chen zu bauen. Es ist ein schö­ner Okto­ber­tag. Man zieht kurz nach Voll­endung des Kel­ler­wer­kes los auf die nächste Wiese, die schön blüht, Mar­ge­ri­ten vor allem. Lukas ist stolz auf den Dra­chen und der Vater ist es auch. Aus dem Dra­chen einer rei­nen Vor­stel­lung ist ein wirk­li­cher Dra­chen gewor­den, den man berüh­ren kann, ein drei­stö­cki­ger Kas­ten­dra­chen, der knis­tert. Gus­tav fühlt sich wohl, es ist ihm so rich­tig warm gewor­den, er hat sich gut ein­ge­pegelt. Einige Bie­nen flie­gen zick­zack herum. Ein star­ker Wind geht, der Dra­chen fliegt hoch hin­auf. Der Sohn und der Vater hal­ten ihn gemein­sam an der Schnur. Sie ren­nen über die Wiese. Ein­mal hebt der kleine Junge ab, der Vater erwischt ihn gerade noch am Fuß. Dann fällt der Vater um. – stop

5.06 – Schwierig sei, sagte Yolande, dass sie eine Großmutter habe, die in Armenien geboren wurde, und einen Großvater, der in Usbekistan lebte, und dass ihre Mutter ihre Kindheit in der Türkei verbrachte, dass sie ihren Mann in Griechenland kennenlernte, dass sie zwei Töchter gebar in Deutschland im Jahr 1995, dass die Sprache ihrer Mutter nicht Deutsch gewesen sei, dass sie selbst zunächst aber die deutsche Sprache lernte, dass sie in dieser Sprache träume, das sage man doch so, und dass sie über einen deutschen Pass verfüge, dass sie aber zugleich dieses dunkle Haar trage und ihre Augen von der Natur schwarz und mandelförmig gestaltet worden seien, weswegen sie sich stets anhören müsse, wie gut sie integriert sei in Deutschland, und wie gut sie doch die deutsche Sprache sprechen würde, so gut, dass man fast meinen würde, dass sie eine Deutsche sei, wo das aber doch nicht möglich ist, weil sie doch diese ihre Augen trage, und ihre Haut etwas dunkler sei auch im Winter, und dieses Haar, denkt man, sagte Yolande am 16. März des Jahres 2016 um kurz nach zehn Uhr abends, als sie gerade eben in einem Zug Platz genommen hatte. – stop

> particles

2. April 2016 21:39










Christine Kappe

… Der Film war gut, aber schrecklich, er rüttelte uns alle wieder wach, beunruhigte, faszinierte uns. Er handelte von einem jungen Schwarzen, der hochschwanger war und durchdrehte. Mitten auf der Autobahn hielt er an, stieg aus seinem Auto und lief auf die Fahrbahn. Er verursachte einen schlimmen Auffahrunfall mit mehreren Toten und wollte sich am Ende selbst umbringen. In dem Moment ging die Sonne auf und er schaute in die Sonne, schöpfte wieder Hoffnung und ließ von seinem Tun ab. (Auf dem Plakat sah man den Mann mit einer Weltkugel als Bauch, die Weltkugel reflektierte das Sonnenlicht.) Mensch, das war eine tolle Art mit dem Thema umzugehen, aber niemand verstand es, und wir verstanden nicht, dass es niemand verstand und irgendwie doch, das war halt das Drama, alles war zu nah dran, wir mussten erst ein paar Jahre warten, und eigentlich hatten wir den Film ja gedreht, in unseren Köpfen, in unseren Träumen, und eigentlich wussten wir da auch die Wahrheit und konnten angemessen handeln, aber verdammt, wir lagen im Bett, wir waren im Bauch, wir spürten die Wärme, ein Funken Hoffnung, an Handeln war nicht zu denken, und da war ja noch der ganze Anfang, den ich weggelassen hatte, die Fahrt zum Kino, den Stau, unseren Übermut, das Schwitzen, die Eitelkeit, den teuren Sekt, die unglückliche Liebe, die kaputte Familie und die Angst vorm Altwerden …

29. März 2016 10:44










Martin Piekar

KomainVers

Flüchtlingsheime sind leichtentzündlich
Wenn wir sie weiterglimmen lassen
In direkter Demokratur besorgter Bürger
Wie ich da nur schreiben kann? Ich fühle mich
Als totes Gewicht auf den Tasten
Ich kann mich nicht alle zwei Tage
Ins Koma saufen
Wut und Gedichte sind nicht kompensierbar

ISIS und AfD polieren die Hirnklinke
Irgendwann vertausch ich die beiden noch
Teilzeitbelagerung – ein Tropfen
Auf der heißen Tastatur
Meinen Mittelfingern juckts
Wut und Hassprediger sind nicht kompostierbar
Liebe Dichter*innen, ich brauche Hilfe
Wie schreibt man
Gegen einen Brandanschlag an?
Denn die Welt ist zu groß
Um allen auf die Fresse zu haun

#meinenMittelfingernjuckts
Aber bloß nicht aus Verzweiflung anfangen
Mit Utopien rumzumachen
Entschuldigung, entschuldigung, ich werde
Kein zähneknirschendes Buffering bleiben.

28. März 2016 09:04










Christine Langer

Spring

Ich trage den Schatten der Linde
Lasse trockenes Laub
Zurück

Aus dem Mosaik der Zweige
Folgen mir Stimmen keimender
Lust

27. März 2016 20:37










Karin Fellner

–>

die Leine, das scharfe Leuchten der Nachrichtenzweige. Wie ging das *lülalü* mit dem Aufbruch nochmal? Der Eizahn wächst bekanntlich langsam, im Überlastfall wirst geschleudert durch –

Gischt, wirst umdefiniert und durch Matrizen gezogen, die *zack* jedwede Ansicht dir präparieren: ein Spektrum aus Doppelbutzen, Spektakulum, zunehmend dicht, stöbernde Basenpaare, Schalen ohne –

Gewölk, Intarsien eher. Schätzt das auf μ Komma μ und legst dich dazu, während Bohnen entfallen, Geschwindigkeit *ho* nach Norden. Zellen interagieren, kräuseln, plus minus plus, derart –>

27. März 2016 15:04










Markus Stegmann

Treffer!

Gemäss syrischem Fernsehen kämpfe Herr Ulrich gegen den IS, wenngleich Frau Glas den Nachschub an Schnapsbohnen gefährdet sehe und daselbst im Kampf gegen das Leben selbst stehe, indes Herrn Ulrich vor sich sehe, wie er seinen Kampf nichtsdestotrotz aufrecht erhalte, während sie, Frau Glas, Frau Atnan telefoniere, um über die Übertragungen des syrischen Fernsehens zu orientieren. Frau Atnan hingegen weiss, dass Herr Ulrich solange durchhalte wie sie, Frau Glas, sich in der Lage sehe, den Schnapsbohnennachschub sicherzustellen. Ausser Lage, telegrafiert Frau Glas zurück, sie sehe sich ganz und gar ausser Lage, Verantwortung zu übernehmen. Treffer! Herr Ulrich simst durch alle Nachrichtenverwirrung hindurch: Treffer! Doch Treffer für oder Treffer gegen?

27. März 2016 00:24










Karin Fellner

–>

ins Summen gehst, ins Wurzeln der Operatoren, vorbei an Plastikkot in den Zweigen, an *grmbl*, suchst Knospen zu tragen, schwer, und Formeln ziehn und Lichtschädel vorüber, stehst strahlend in zu engen –

Blablablasen *aaargh* à la Schaumzikaden durchwuchern dich, Stickiges kann, versteht sich, genauso verschränkt werden wie jeder Zustand. Jetzt bricht eine Schwalbe aus einer der Blasen, sagt: nimm dein Kopfblueten an –>

26. März 2016 19:11










Christian Lorenz Müller

BEGRÜSSUNGSTEXT FÜR KARIN FELLNER

Karin Fellner überrascht uns immer wieder, zuletzt mit wuchernden, mooshaft in alle Ritzen und Spalten der Wahrnehmung eindringenden Texten über den Böhmerwald. Sie ist eine Poetin, die ihren Intellekt und ihre Emotionen, ihre Skepsis und ihre Hingabefähigkeit auf höchstem Niveau Sprache werden lässt. Von professoralem Wissen und studentischer Lässigkeit zugleich, überzeugt sie als Lektorin und Leiterin von Schreibseminaren. Persönlich kennengelernt haben wir sie im Münchner Literaturhaus (Christine) und während einer Schreibwerkstatt im Lyrikkabinett München (Christian).

Herzlich willkommen, liebe Karin, im „Goldenen Fisch“!

26. März 2016 19:00