Christian Lorenz Müller

RASPUTIZA

Wann geht die Geduld der Erde
endlich zu Ende, wann schlammt sie sich
um die Reifen, wann lehmt sie
alle Panzerketten still,
wann zieht sie den stürmenden Soldaten
die Stiefel von den Füßen,
wann durchfeuchtet sie die Munition,
wann werden die Schützengräben
zu Grachten, auf denen der Traum
vom Frieden leise gleitet,
wann ockert die Erde all das vergossene Blut
ins Erinnern, ins Vergessen,
wann kleistert die Steppe
Drohnen, Flugzeuge fest an ihren Bauch,
wann verschlufft sie die Rohre der Artillerie,
die Läufe der Kalaschnikows,
wann saugt sie die Splitter, die Schrapnelle
so tief in sich hinein, dass keines Menschen nackter Fuß
sich daran ritzt im nächsten Sommer
wann

21. Oktober 2024 13:59










Björn Kiehne

Türkischer Tee

Ich setze mich zu den Männern ins Café,
die Sonne wärmt den Platz und mein Knie,
das noch vom Spaziergang schmerzt.
„Jetzt bin ich alt“, denke ich bei mir.

Eine Möwe fliegt über den See, nimmt meine
Gedanken mit zu Anand, der im Tropeninstitut
an einem Virus starb, das seine Leber aushöhlte,
bis sie nichts mehr war als ein nutzloser Schwamm;

zu Nyan-Soe, der daran starb, dass er liebte.
Die Lungenentzündung nahm ihm die Luft zum Atmen,
mein Geld für seine Behandlung bezahlte die
burmesische Bestattung mit Mönch und Feuerwerk;

zu Roberto, der TikTok mit Videos füllte.
Ein Weichteiltumor, nussgroß, streute die
hungrigen Kinder in seinem Körper; vor den
Augen der Familie fraßen sie ihn langsam auf.

Die Möwe kehrt zurück über den See.
„Alle, die ich liebe, werde ich verlieren“,
denke ich bei mir, blinzle in die Sonne,
nicke dem Tod zu und trinke meinen Tee.

15. Oktober 2024 23:31










Hans Thill

Schiller Karaoke

3
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,

Anderntags holt sich der Plutoniumhund wieder das Scherle
und schneidet aus Blech die Lyrik zum Fraß. Sternköter
faß! Stapelte Teller und Scheiben noch bis zur Sonn, da es
dunkelte, ein Migo läge im Schatten,
der Motor des Zu-sehr.

Überaus gelobtes Lügenbegehr, welche
Locke langte wohl an den satten
reinlichen Schächer
rechts von der
Leiter.

Nur erschossen ist bereits einmal erreicht.

12. Oktober 2024 14:37










Mirko Bonné

Migo

Hedva Harechavi
Migo

bringt meinen Migo wieder
bringt mein Heiliges wieder
bringt meinen Orakelstern meinen Augenstern wieder
bringt mein wunderschönes Ewigkind wieder
Indianerengel mein
Weltherr mein
bringt meine Nachtleben wieder
Nächtlein um Nächtlein mein
kriechen laufen rennen tanzen singen ganze Nacht meine
bringt meine Seele wieder
Kopfherzblutknochen mein
Hungerunddurst mein
Lichtundsiege mein
Haus mein
aus meinem Zimmer die Wärme mein

bringt wieder worüber ich nie gesprochen hab
den Moment
diesen einen
dort
wie dort
drei Uhr morgens
am Ufer eines gewaltigen Sees
und keinerlei Aufsicht auf Erden
und keinerlei Aufsicht im Himmel

und der Walfisch fragt: „Wie? Ist es wahr? Alle Ozeane
haben keine einzige Wand?“

Aus dem Hebräischen von Yevgeniy Breyger

*

7. Oktober 2024 17:34










Hans Thill

Schiller Karaoke

2
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.

Nix, härene Braut, reut uns am Stück, mal als Zeugen mal
wie echte Gäste als steigende Zier

und Bereitstellung eines Herrgotts aus Herne, zerzaust taucht
er auf aus eigenem Beton. Nie röhrt in der Früh die Bronchie
des Herrn Ernst, niemals wäre ein Brot schon geerntet,

ein Eisen schneller gerostet als gezeugt.

4. Oktober 2024 10:43










Hans Thill

Schiller Karaoke

SCHLICHTE NÄNIE

1
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,

Töne zu erben ist Zwingli auf Zwo,
niedergerungen schon seit Eppel und Söhne

von allen die zwinkern und zagen. Bitte bearbeite
das Snippet. Eine immerhin nestelt
an ihrer Schürze, während die Kerlchen am Gitter
die Töne genießen. Scharfgold in Scheiben, Zwo hier
mit Schillerklavier den Gönnern
gewogen, schonend

gezimmert, auf dem Sofa zu singen,
dahinter Wiesenbächlein,

Zwingli nicht mehr erlaubt.

29. September 2024 11:55










Hans Thill

Schiller Karaoke

Friedrich Schiller

Nänie

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.

29. September 2024 09:55










Andreas Louis Seyerlein

~

1.08 UTC – Wie Menschen nun Handys nicht länger an ihre Ohren halten, sondern vor den Mund. Vielleicht auch deshalb, um gleichzeitig sprechen und lesen zu können, sprechen also und hören und noch etwas Weiteres tun. – Wieder Nacht. In einem Moment der Stille, in Gedanken zu Besuch in der befreiten Stadt Mariupol, beobachtete ich ein Bücherregal, das in meinem Arbeitszimmer steht. Ich meinte wieder einmal, ein Geräusch wahrgenommen zu haben; in etwa hörte sich das so an, als würde man ein Ohr an ein Bambusrohr legen, durch welches Kieselsteine fallen. Zunächst meldete sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befinden, die ich bisher nicht gelesen habe, wartende Bücher, sagen wir, Mahnende. Kurz darauf wanderte das Geräusch in die Mitte des Regals, Christoph Ransmayr klimperte, John Berger, Janet Frame, Antonio Tabucchi. Ich hatte für einige Minuten den Eindruck, das Geräusch oder seine Ursache könnte sich vervielfältigt haben. Wenn nun Folgendes geschehen wäre, dass sich die Bücher meines Regals in Funkbücher verwandelten, in Bücher, die nur vorgeben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Seiten verfügen, die eigentlich Bildschirme sind, die man umblättern kann. Dann wäre denkbar, dass ich jenes typische Geräusch vernommen habe, das in genau dem Moment entsteht, da der Autor eines Buches mittels Funkwellen eine erneuerte Fassung seines Werkes in die Zimmer der Welt entsendet. Ich muss darüber nachdenken, was die Möglichkeit oder die Existenz der Funkbücher bedeuten würde für das Schreiben, für das Aufhören können, für Anfang und Ende einer Geschichte. Und wenn nun Jean Pauls Komet in meinem Zimmer rascheln würde, oder Dantons Tod, Georg Büchner? – Noch zu tun: Regenwörter erfinden. – stop

 

 

Ich würde mich irren, 

sagte das Mädchen zu meiner

Übersetzerin in Tashkent. Sie

trage keinen Regenschirm,

vielmehr einen Sonnenschirm

mit sich.

 

> p a r t i c l e s

14. September 2024 18:06










Mirko Bonné

Testudo

Seit Juli vermisst: Schildkröte.
Der Zettel mit Zeichnung, gepinnt
an die nachtwarme Hauswand,
erzählt von ihr, aber nicht viel.
Man erfährt nicht, wie groß sie ist,
noch steht da etwa ihr Name – du
heißt womöglich genau wie sie.
Gleich, wie lang es sie schon gibt,
40 Jahre (dann hätte sie die Größe
eines Kindersoldatenhelms) oder
70 (mit einem verirrten Mähroboter
würde man sie verwechseln) oder
auch 120 (sie gliche dann einem
der friedfertigen Provencewarane) –
dein Alter bemisst du an ihrem.

Wilde Schildkröte, kriech weiter
durchs Hochsommerdunkel, setz
einen Fuß vor den anderen und sei
nicht die Ruine einer Orangenhälfte.
Die Trompete des Donners. Summen
müder Grillen. Oben in die Stille gekippt
Geglitzer in den Sternwipfeln. Oleander
ist ein schleppendes Feuer, ein Rosa,
so tief, dass der Tag darin ertrinkt.

Der Nachtduft atmet. Lauwarm ist er
wie die Hand des Mädchens, dem
sie gehört und dessen Pulsschlag sie
noch durch ihren Panzer gespürt hat.
Komm schon, flüsterte es, zeig mal
den Kopf. Manchmal spielt sie noch
Römische Formation. Oder sie fängt
aus der Luft ein Knisterblatt. Schon
bündelt sie alle Bewegung, jedes
glücklose Eilen, zu dieser Stille,
die sie ganz so enthält, wie sie
alle Schildkröten enthält. Außen
erlischt sie, innen kriecht sie weiter
hinaus aus dem Tod, und dir zeigt sie,
der hier sterben muss, das bist du.

*

9. September 2024 11:29










Thorsten Krämer

*

August 2

28. August 2024 11:20